20 Jahre lang hat «der Westen» islamistische Terrorgruppen wie Al-Qaida und die afghanischen Taliban bekämpft. Eine direkte Folge davon war die Entstehung des Islamischen Staats in Irak und Syrien und eine Welle von Terroranschlägen in europäischen Städten mit insgesamt Hunderten von Toten, alle legitimiert durch den Koran. Warum bietet sich ausgerechnet «der Islam» derart für extremistische Lesarten an?
Die extremistische Auslegung sei nichts spezifisch Islamisches, erklärt der islamische Theologe Ahmad Milad Karimi: «Der Koran spricht nicht, er sagt nicht: Lies mich historisch-kritisch. Das ist das Eigentümliche der Heiligen Bücher wie Bibel und Koran. Sie können sich nicht gegen Missbrauch wehren. Sie fordern uns heraus.»
Dazu gehören Stellen, die zur Gewalt aufrufen wie zum Beispiel die Sure 2:191, in der steht: «Tötet sie [die Heiden] wo ihr sie trefft, und vertreibt sie, wie sie euch vertrieben haben! Aufruhr ist schlimmer als Töten.»
Heilige Bücher können sich nicht wehren
In der Sure gehe es um die junge Gemeinde der Muslime um den Propheten Mohammed, die bedroht und aus der Stadt Mekka vertrieben wurde, so Karimi: «Und Gott sagt, sie sollen sich gegen dieses Unrecht zur Wehr setzen. Es geht also um eine Situation, die sich vor 1400 Jahren zugetragen hat. Und – das ist vielleicht noch wichtiger – es ist Gott, der spricht, kein Mensch.»
«Sekten wie Salafisten oder Wahhabiten leiten daraus eine normative Handlungsanweisung ab. Sie kapern gewissermassen die Religion, die sich nicht wehren kann.» Dass Religion als Begründung für politische Handlungen benutzt wird, sei zudem kein neues Phänomen, sagt der Islamwissenschaftler Stefan Weidner: «Die Kreuzzüge zur Eroberung Jerusalems oder die Reconquista Andalusiens durch Kastilien wurden mit der christlichen Rechtfertigungsideologie betrieben.»
Sozialismus hat ausgedient
Der Islam sei für Extremisten auch deswegen attraktiv, weil andere Ideologien wie der Sozialismus im Nahen Osten inzwischen ausgedient hätten, so Weidner weiter. Syrien, Irak oder die palästinensische PLO waren vor 1989 mit den UdSSR verbündet. Dort wehrten sich die Islamisten gegen das sozialistische – und somit antireligiöse – Gesellschaftsmodell, das den Menschen genauso fremd war wie die von den ehemaligen europäischen Kolonialmächten gezogenen Grenzen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der mit ihnen verbündeten Regime, blieb «der Westen» übrig als Antagonist, den es zu bekämpfen gilt. «Politischer Extremismus entsteht oft aus einer Notlage, einem Mangel heraus. Es ist ja nicht so, dass es den Leuten gut geht und die dann hingehen und beschliessen, sie machen einen Anschlag, weil sie eine bestimmte Sure im Koran gelesen haben», so Weidner, «sondern weil es ihnen an einer Zukunftsperspektive mangelt.»
Klare Haltung
Religiös motivierte Gewalt gab es also schon immer. Dass sie heute vor allem mit «dem Islam» begründet wird, sei ein grosses Problem und verlange nach einer klaren Haltung, schliesst Karimi: «Ich wünsche mir, dass alle Muslime der Welt eine Erklärung verfassen, dass die Auslegung ihrer Religion durch Extremisten wie die Taliban nicht ihrer Weltsicht entspricht und so die Botschaft des Propheten verunglimpft wird.»