Vor über 20 Jahren erschien der erste «Harry Potter»-Band – bis heute hält die Faszination für diese Magiewelt an. Aus religionswissenschaftlicher Sicht hat die Buchreihe einiges zu bieten, auch wenn darin keine Religion propagiert wird.
Ein Gespräch mit dem Religionswissenschaftler und Magieforscher Bernd-Christian Otto über biblische Referenzen, gefährliche Zaubersprüche und die Offenbarung «Harry Potter».
SRF: Vor Kurzem hat eine Schule in Tennessee die Buchreihe «Harry Potter» aus ihrer Bibliothek verbannt. Die Zaubersprüche darin könnten gefährlich sein, erklärte der Schulpfarrer. Auch hierzulande wird Harry Potter von Evangelikalen kritisiert. Wo liegt das Problem?
Bernd-Christian Otto: Fundamentalistische Christen rücken Harry Potter in die Nähe zur Wicca-Religion oder zum zeitgenössischen Satanismus. Sie behaupten, dass Kinder durch das Lesen der Bücher dazu verführt werden, sich okkulten Themen zuzuwenden.
Einige scheinen sich auch auf den mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin zu berufen. Dieser meinte, selbst aufrichtige Christen würden Gefahr laufen, einen Pakt mit dem Teufel zu schliessen, wenn sie unbekannte Worte oder Formeln rezitieren, da es sich dabei um Dämonennamen handeln könnte.
Wenn man also Rowlings ausgedachte Zaubersprüche nachspreche, laufe man Gefahr, Dämonen anzurufen und dadurch Götzendienst zu betreiben.
Viele magische Motive lassen sich ideengeschichtlich auf die Bibel zurückführen.
Aber Religion spielt in den Büchern kaum eine Rolle.
Es gibt keine Kirche, keinen Gott, keine Transzendenz – abgesehen von der Parallelwelt der Magier. Weihnachten und Ostern werden nur am Rande erwähnt, gelegentlich werden Begräbniszeremonien geschildert, die keiner Religion zuzuordnen sind.
Rowling erwähnte einmal, dass sie dies bewusst so gestaltet hat, um in den Romanen keine religiöse Tradition zu bevorzugen: Hogwarts sei eine «multi-faith school» – eine Schule mit vielen Religionen.
Aber trotzdem weisen die Bücher doch religiöse Züge auf?
Die Bücher greifen zumindest viele religiöse Motive auf. Harry Potter selbst kann etwa als «geretteter Retter», als auserwählter Messias gedeutet werden, der mit Hilfe seiner übernatürlichen Fähigkeiten die Welt rettet.
Sein Zauberstab ist eine Reminiszenz an den Stab Mose, mit dem dieser etwa das rote Meer teilte. Sein Kampf gegen die Dementoren erinnert an die Exorzismen Jesu im Markusevangelium. Im letzten Band scheint Harry Potter sogar wiederaufzuerstehen. Viele magische Motive lassen sich ideengeschichtlich auf die Bibel zurückführen.
Das Fliegen wurde auch christlichen Heiligen zugeschrieben.
Und wie steht es um das Fliegen?
Der fliegende Besen ist ein Motiv, das Rowling aus frühneuzeitlichen Darstellungen der Hexenfigur übernommen hat.
Interessant ist aber, dass das Fliegen auch christlichen Heiligen zugeschrieben wurde. Der bekannteste unter ihnen ist der «fliegende Pater» Josef von Copertino aus dem 17. Jahrhundert, dem über 30 öffentliche Levitationen nachgesagt wurden.
Auch andere Wunderkräfte, über die Harry Potter und seine Freunde verfügen – wie etwa Hermines Fähigkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein – wurden in der katholischen Selig- und Heiligsprechung über viele Jahrhunderte für glaubwürdig erachtet.
Die Entstehung von Harry Potter erinnert doch auch an eine Offenbarung?
Ja, die Entstehungsgeschichte von Harry Potter, so wie Rowling sie erzählt, ist faszinierend und erinnert an solche Beschreibungen. Sie war 1990 im Zug unterwegs nach Edinburgh, in schlechter Gemütsverfassung, kurz nach einer gescheiterten Ehe. Ohne Job, Geld, Zukunftsaussichten und mit einem Baby im Gepäck.
Da «erschien» ihr plötzlich das Gesicht eines jungen Zauberers. Rowling hat sich Harry Potter also nicht einfach ausgedacht, sondern er kam vielmehr zu ihr.
Vor diesem Ereignis hatte sie niemals daran gedacht, Schriftstellerin zu werden. Noch am selben Tag fertigte sie Notizen an und arbeitete in den folgenden Monaten und Jahren wie eine Besessene daran.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.