Der Religionssoziologe Anastas Odermatt erforscht das sogenannte «Sozialkapital». Das Konzept stammt aus der Soziologie und könnte auch als «soziales Schmiermittel» bezeichnet werden. «Die Grundidee von Sozialkapital ist, dass soziale Netzwerke einen gewissen Wert haben», erklärt Odermatt.
Ein gutes Beispiel dafür ist «Vitamin B». Wer gut vernetzt ist, bekommt schneller Hilfe und kann seine Ziele besser erreichen. «Diese Netzwerke haben aber auch einen Wert für die Gesamtgesellschaft», sagt Odermatt.
Wenn das soziale Vertrauen in einer Gesellschaft hoch ist, dann funktioniert vieles einfacher. «Beispielsweise die Migros-Kassen heutzutage. Da kann man durchgehen und jeder ist mehr oder weniger selbst dafür verantwortlich, dass er alles einscannt», so der Religionssoziologe. «In einer Gesellschaft, wo niemand dem anderen vertraut, wäre so etwas gar nicht denkbar. Das Vertrauen würde laufend ausgenutzt.»
Wer Religion praktiziert, engagiert sich mehr
Welchen Einfluss Religion und Religiosität auf dieses soziale Vertrauen und auf das gesellschaftliche Engagement insgesamt haben, wollte Anastas Odermatt genauer untersuchen. Deshalb hat er eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2019 ausgewertet. Gut 3’000 Personen in der Schweiz gaben Auskunft über ihren Lebensstil, ihre Religiosität und ihr Sozialleben.
Man könnte annehmen, dass sich religiöse Menschen mehr engagieren als andere. Aber so einfach ist es nicht. Es kommt darauf an, wie die Menschen ihre Religion leben. Ob sie zum Gottesdienst oder zum Freitagsgebet gehen oder regelmässig an anderen religiösen Ritualen teilnehmen.
«Religiosität hat tatsächlich einen positiven Einfluss auf freiwilliges Engagement», sagt Odermatt. Aber es sei vor allem die religiöse Praxis, die hier positiv wirke. «Insbesondere die Zeit und der Raum direkt nach dem Ritual, wo sich die Menschen treffen und sich gegenseitig austauschen».
Motivation aus dem «Kafichränzli»
Es ist die Zeit, die Menschen nach der Messe oder dem Gebet miteinander verbringen. Salopp gesagt geht es um das «Kafichränzli» oder die Bierrunde. Dies führt letztlich zu sozialem Engagement.
Und was ist mit dem Vertrauen, das die Menschen ineinander haben? Beeinflussen sich die beiden Faktoren gegenseitig? «Freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen hängen überraschenderweise nicht zusammen. Es sind vielmehr dieselben Faktoren, die sowohl zu freiwilligem Engagement als auch zu sozialem Vertrauen führen».
Religiös und tolerant
Eine weitere Erkenntnis aus der Studie von Anastas Odermatt: Am meisten Sozialkapital gewinnt die Gesellschaft von jenen Menschen, die religiös und dabei liberal und tolerant sind. «Es braucht eine liberale Ausrichtung, eine offene Haltung oder eine offene Religiosität der einzelnen Menschen», so der Soziologe.
«Dagegen wirkt eine exklusivistisch fundamentalistische religiöse Überzeugung negativ. Also eine Überzeugung, die sich selbst verabsolutiert und andere Überzeugungen abwertet.» Hier würden Vorurteile entstehen, die das soziale Vertrauen schädigen. Religion und Religiosität können also sehr wohl als soziales Schmiermittel wirken, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen.