Digitale Gottesdienste erlebten während der Pandemie einen regelrechten Boom. Inzwischen ist das Streaming analoger Messen wieder weitgehend von den Bildschirmen verschwunden. Geblieben sind Projekte, die konsequent digital konzipiert wurden, darunter das «Netzkloster» oder «Brot & Liebe».
Wenn es am Anfang des Gottesdienstes heisst «So wie du jetzt da bist, so ist es gut», könne sie jedes Mal in Tränen ausbrechen, erzählt Birgit Mattausch: «Weil ich eine riesige Sehnsucht danach habe, dass mir jemand sagt: Du darfst jetzt da sein – mit allem, was du an Gutem, Traurigem und Abgründigen mit dir herumschleifst.»
Diesen «Spirit von absoluter Annahme» erlebe sie bei «Brot & Liebe». So heisst ein digitaler Zoom-Gottesdienst und Instagram-Account. Das Projekt wurde während der Pandemie von einem Berliner und einem Schweizer Team gegründet.
Wie an einem grossen Tisch
Birgit Mattausch ist Pastorin und Ausbildnerin, sie lebt in Hildesheim und ist digital zu Hause. Den Austausch in sozialen Medien findet sie genauso inspirierend wie bei physischen Treffen.
Während der Pandemie wurde sie Teil der Gemeinschaft von «Brot & Liebe». «Ich hab mich da einfach wahnsinnig wohl gefühlt. Es wurde während des Lockdowns ein ganz wichtiger spiritueller Ort für mich.» Deshalb entschied sie, selbst mitzuarbeiten.
Der Theologin gefällt die Musik und auch das Konferenztool «Zoom», über das die Online-Gottesdienste stattfinden. Vor Corona habe sie dieses gar nicht gekannt. «Es ist, als würden wir alle an einem Tisch sitzen», sagt sie.
Überhaupt schaue sie viel lieber in die vielen Gesichter, die dann auf ihrem Bildschirm erscheinen, als auf die Hinterköpfe in den Kirchenreihen beim analogen Gottesdienst. «Ausserdem mag ich sehr, dass es immer ‹Abendmahl› gibt. Das ist etwas ganz Wichtiges für mein Leben.»
Den Gottesdienst mitproduzieren
Zum Zoom-Gottesdienst kommen in der Regel rund 50 Personen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Er findet jeden zweiten und letzten Sonntag im Monat statt. Die Atmosphäre und die Worte sind einladend, der Ablauf ruhig und meditativ. Es gibt Raum zum Zuhören und Nachdenken. Die Kamera kann aus- oder eingeschaltet sein, ganz nach dem eigenen Ermessen.
Ich möchte unsere alten spirituellen Schätze in eine urbanere Welt übersetzen.
Zum Konzept von «Brot & Liebe» gehört, dass es keine Predigt im klassischen Sinne gibt. Es gibt Geschichten, Musik und die Möglichkeit, das, was nachklingt und hängen bleibt, in eine Wortwolke zu tippen.
Es gibt auch das «Popcorn-Gebet», bei dem Teilnehmende ihre Bitten und Danksagungen in den Chat schreiben können – die dann wie Maiskörner fast gleichzeitig aufplatzen. Für Birgit Mattausch ist das ein sehr schöner, gemeinschaftlicher Moment: «So werde ich Mitproduzentin dieses Gottesdienstes, auch wenn ich eigentlich ‹nur› teilnehme.»
Eine Sprache für die Gegenwart finden
Das Projekt von «Brot & Liebe» ist überregional und überkonfessionell, oder auch «postkonfessionell». Das bedeutet, dass nicht mehr über konfessionelle Unterschiede gestritten wird, zum Beispiel über das unterschiedliche Abendmahls- oder Eucharistieverständnis. Die Unterschiede werden als Bereicherung wahrgenommen, nach dem Motto: Wie erlebst du das, was ist für dich hilfreich?
Birgit Mattausch ist evangelische Pastorin, ihr Schweizer Kollege Meinrad Furrer römisch-katholischer Seelsorger. In Luzern leitet er die Citykirchenarbeit an der Peterskapelle – und er ist mit-zuständig für «Brot & Liebe». Sein Anliegen sei es – egal ob in der Peterskapelle oder beim digitalen Gottesdienst – die christliche Botschaft ins Heute zu bringen.
«Ich möchte unsere alten spirituellen Schätze in eine urbanere Welt übersetzen», sagt der Theologe. Er verstehe, dass sich die Menschen von alten Formaten abgewandt haben, «weil sie die Ästhetik, die Sprache nicht mehr verstehen». Es sei aber unglaublich schade, «wie viel Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde».
Die Kirche anschlussfähiger machen
Bei «Brot & Liebe» versuche man, ganz ohne «alte» Kirchensprache auszukommen. Es handle sich um eine neue Liturgie, ein neues Format, entwickelt aus den Möglichkeiten, die Zoom als Online-Konferenz-Tool bietet. Statt Gemeindegesang setze man lieber auf Musikeinlagen aus der Populärmusik.
Für Menschen wie Birgit Mattausch wird der Gottesdienst dadurch ästhetisch zugänglicher. Obwohl sie selbst Pfarrerin ist, fühlte sie sich in traditionellen Kirchen oft fremd – anders als in der neuen Netzgemeinde. Das sei eine neue Erfahrung für sie.
Bleibt die Botschaft, wenn die Kirchen gehen?
Die Schilderungen von Birgit Mattausch und Meinrad Furrer zeigen, dass die physische Distanz der Online-Community nicht gleichbedeutend ist mit der gefühlten Distanz untereinander. Im Gegenteil: Man scheint sich viel näher zu fühlen, weil eine ganz bestimmte Haltung dieses Gottesdienstes alle verbindet – eine weite und offene Theologie, die Unterschiede überwinden will.
Sieht so also die Kirche von morgen aus, auch und gerade angesichts sinkender Mitgliederzahlen? «Was im Moment passiert, ist wirklich disruptiv», sagt auch Meinrad Furrer über die Entwicklungen in den Landeskirchen. Die nächsten zehn Jahre würden «erdrutschartig». Niemand wisse, wie es mit den grossen Kirchen als Institutionen weitergehe.
Die Inhalte und die christliche Botschaft selbst werden laut Meinrad Furrer aber nicht weniger wichtig, im Gegenteil: Der Druck auf die Menschen in unserem System sei enorm gross. «Wir müssen gute Konsumenten sein, viel leisten und in allem gut sein», so Furrer. «Wir brauchen eine andere Botschaft: Es ist okay, wenn du schwach bist. Du wirst gesehen.»
Native Onlineformate bleiben
Das «Netzkloster» bringt ebenfalls spirituelle Praxis in die eigenen vier Wände. Es ist ein Projekt der Evangelisch-methodistischen Kirche in der Schweiz. Wie «Brot & Liebe» ist es während der Pandemie entstanden. Beide Projekte waren von Anfang an digital konzipiert und bildeten nicht das Analoge im Digitalen ab, wie es beim Streaming von Gottesdiensten der Fall war.
Im «Netzkloster» hat sich inzwischen eine kleine Gemeinschaft gebildet, die regelmässig gemeinsam meditiert. Für den «Netz-Abt» Simon Weinreich, ein junger reformierter Pfarrer, ist die Mischung aus Tradition und Innovation spannend. Deshalb habe er sich um diese Stelle beworben und weil ihm Stille, Meditation und Mystik immer wichtiger geworden seien.
Wir denken alle über denselben Gedanken oder Impuls nach und das verbindet uns.
Vor zehn Jahren sei seine Spiritualität «viel extrovertierter» gewesen: «Da habe ich viel gesungen und beim Beten immer geredet. Jetzt merke ich: Ich kann einfach still sein und warten, ob ich Gott höre.»
Alltagstauglichkeit ein wichtiges Kriterium
Die Sehnsucht nach Stille teilt Simon Weinreich mit den Teilnehmenden. Davon erzählen sie im «Netzcafé». So heisst der Plausch nach der rund 45-minütigen Schweige-Meditation.
Alle betonen, dass es auf diese Weise sehr einfach sei, im Alltag mit anderen zu meditieren. Es sei verbindlicher, wenn man eine Verabredung habe. Man spürt die Anwesenheit der anderen, obwohl jeder in seinem eigenen Raum sitzt. «Wir denken alle über denselben Gedanken oder Impuls nach», sagt einer der Teilnehmer, «und das verbindet uns».
Eine Teilnehmerin aus der Nähe von Stuttgart sagt: «Ich stelle mir das vor, wie ein Netz über Deutschland und der Schweiz. Überall, wo wir sitzen, ist eine kleine Klosterzelle. Wir sind alle über Distanz miteinander verbunden.» Eine andere zieht es ohnehin vor, nicht im selben analogen Raum zu sitzen, da sie jedes Mal viele Stimmungen und Schwingungen spüre, die sie ablenken. So könne sie sich besser konzentrieren und sei dennoch verbunden.
Das beste beider Welten schätzen lernen
In den Gesprächen wird deutlich, dass die Frage zwischen digital oder analog gar nicht so entscheidend ist. Der Vorteil des Digitalen liegt eindeutig in der Flexibilität – es ist viel einfacher am Sonntagabend oder Mittwochmorgen den Laptop einzuschalten, als irgendwo hinzufahren, um einen Gottesdienst zu erleben oder zu meditieren.
Die spirituelle Übung und Praxis lässt sich in digitaler Form leichter in den Alltag integrieren, berichten die Teilnehmenden. Es werde aber auch bewusst, was nicht geht: Hier und da fehlt eine Umarmung oder etwas Smalltalk.
Für Birgit Mattausch, die für Fortbildungen manchmal quer durch Deutschland reist, hat die Erfahrung mit Onlineformaten aufgezeigt, wofür sich physische Treffen lohnen: für das Zwischenmenschliche. Gespräche, Umarmungen, gutes Essen, ein schönes Haus in einer anregenden Umgebung.
Neue Formate bringen Demokratisierung
Die Kirchenentwicklerin und habilitierte Theologin Sabrina Müller ist überzeugt, dass die Qualität des Erlebnisses nicht davon abhängt, ob die Menschen im selben physischen Raum sitzen, sondern wie sie sich begegnen: Welche Haltung wird eingeübt? Wie achtsam wird mit Worten umgegangen, wie sorgfältig mit der Zeit? In dieser Hinsicht scheinen Onlineformate sogar demokratisierend zu wirken.
Sabrina Müller beobachtet seit langem christliche Bewegungen und hat sich zunehmend auf digitale Formate und Medien spezialisiert. Der Glaube werde fluider, sagt sie, ebenso wie die gesamte Lebenserfahrung. Dazu passen neue Gemeinschaften wie das «Netzkloster» und «Brot & Liebe».
In digitalen Glaubensgemeinschaften entscheiden die Menschen selbst, mit wem sie ihren religiösen Weg gehen wollen – unabhängig von Konfession, Alter oder Wohnort. Der digitale Wandel und die Veränderung der religiösen Landschaft: Beides hängt eng zusammen.