Das Verhältnis von Religion und weiblicher Sexualität ist ambivalent, teilweise zerstörerisch. Das zeigt der Film «#Female Pleasure», der zur Zeit in den Schweizer Kinos läuft.
Was Steckt hinter der Obsession, den weiblichen Körper zu beherrschen? Religionswissenschaftlerin Anna-Katharina Höpflinger gibt Antworten.
SRF: Warum gibt es für die Sexualität in fast jeder Religion so viele Normen?
Anna-Katharina Höpflinger: Religion bietet den existenziellen Grundfragen einen kontrollierten Rahmen. So wie der Tod oder die Frage, woher der Mensch kommt, ist auch Sex eine existenzielle Grundfrage des Menschen. Kein Grundbedürfnis, sondern eine Frage.
Es geht darum, Unkontrolliertes kontrollierbar zu machen. Sexualität ist etwas Unkontrolliertes. In den Religionen wird es nun kanalisiert und normiert. Fast jede Religion sagt, dass es «guten» und «schlechten» Sex gibt. Aber wie die einzelnen religiösen Traditionen konkret mit Sexualität umgehen, ist sehr divers.
Der neue Kinofilm «Female Pleasure» zeigt, dass viele Frauen bei den grössten fünf Religionen der Welt unterdrückt werden, wenn es um Sexualität geht. Woran liegt das?
Das Weltbild dieser Religionen orientiert sich am Mann. Die Sexualität der Frau wird stärker reguliert, weil sie für den Mann da sein soll. Im Europa von heute bin ich nicht sicher, ob die Sexualität der Frau stärker normiert ist, aber sicher anders.
Also widerspiegeln sich Dinge wie Dominanz und Macht in der Sexualität?
Genau. Aber nicht nur Dominanz, sondern das gesamte Menschenbild. Dazu kommt, dass die Religionsstifter in der Regel Männer waren. Und in Kulturen, die patriarchal sind, ist die Religion patriarchal.
Es gibt verschiedene Formen von Macht. In gewissen fundamentalistischen Strömungen wird Macht autoritär ausgeübt. Aber es gibt auch religiöse Möglichkeiten Macht als Vertrauen und Geborgenheit darzustellen.
Religionen sind oft stark konservierend.
So wird oft auch argumentiert. Aus patriarchaler Sicht wird dann gesagt: Wir unterdrücken Frauen nicht, sondern wir geben ihnen Sicherheit. Das ist eine andere Art von Macht. Menschen brauchen Geborgenheit und Vertrauen. Insofern ist Macht nicht per se schlecht. Es geht darum, wie sie ausgeübt wird.
Das Ganze ist nicht nur ein Problem der Religion, sondern der Gesellschaft.
Eindeutig. Selbst unsere säkulare Gesellschaft ist immer noch patriarchal geprägt. Auch in der Schweiz: Das Frauenstimmrecht wurde 1971 eingeführt. Der Wandel für die Frauen kommt langsam.
Die Sexualität innerhalb der Ehe hat sich stark gewandelt.
Spielt es auch eine Rolle, dass man in den Religionen oft einen Bezugspunkt hat, der sehr alt ist?
Klar. Der Fokus auf das Alte wirkt legitimierend. Auch in unserer Kultur: Das, was möglichst alt ist, gilt als wertvoll. Religionen sind oft stark konservierend.
Gleichzeitig findet man in fast allen Religionen auch sehr offene Aspekte. Und die werden manchmal unterdrückt, manchmal auch nicht. Es kommt immer darauf an, wer bestimmt, wie die Religion ausgelegt wird.
Hat sich die sexuelle Befreiung der 1968er auch auf die Religionen ausgewirkt?
Die Debatten der 68er erreichten die traditionellen, religiösen Gemeinschaften erst 20 Jahre später. Bei den meisten Religionen muss man unterscheiden zwischen Sexualität innerhalb und ausserhalb der Ehe.
Tendenziell ist es im konservativeren religiösen Kontext von Europa immer noch so, dass aussereheliche Sexualität – dazu gehört aus jener Sicht auch Homosexualität – nicht als normal anerkannt wird.
Die Sexualität innerhalb der Ehe hat sich hingegen stark gewandelt. Da hatte 1968 tatsächlich einen Einfluss. Zum Beispiel gab es noch in den 1950er-Jahren die Idee, dass man den Partner oder die Partnerin nicht nackt sehen darf. Das gibt es heute auch in traditionell ausgerichteten religiösen Gemeinschaften fast nicht mehr.
Das Gespräch führte Mirella Candreia.