Im Jahr 1755 erschütterte ein fatales Erdbeben die portugiesische Hauptstadt Lissabon. Zehntausende starben. Die Naturkatastrophe erschütterte auch Denkerinnen und Denker in ganz Europa. Bisher waren viele Verfechter der Aufklärung davon ausgegangen, in der besten aller Welten zu leben. Doch wie konnte das sein, angesichts des Erdbebens? Und wo war Gott bei dieser Katastrophe?
Kant zählt auf die Vernunft
Aufklärer wie Voltaire wandten sich von Gott ab und wurden Atheisten. Nicht so Immanuel Kant: Er entwickelte Jahre später eine Religionskritik, in der Gott durchaus seinen Platz hatte, wenn auch eher distanziert. «Kant geht davon aus, dass der Mensch autonom ist, sich selbst bestimmt», erklärt Kant-Experte Volker Gerhardt. «Er muss sich von Gott in Sachen Moral nichts vorschreiben lassen.»
Kant ist nämlich überzeugt, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann, was gut und was böse ist. Und dass alle Menschen, wenn sie ihre Vernunft einsetzen, dieselben moralischen Werte ins Zentrum ihres Handelns stellen. Gott braucht es dafür nicht.
Mehr noch: Dass Gott existiert, lasse sich nicht wissenschaftlich beweisen. Das heisst aber nicht, dass Kant nicht an Gott glaubt. Er sagt sogar: Ein gleichzeitig glückliches und moralisches Leben sei ohne Gott schwer zu führen.
Vernunft und Glaube unter einen Hut bringen
Wie geht das zusammen? Kant entwickelt ein neues Gottesbild: «Kants Gott steht über der Natur, über dem Kosmos. Er hat es nicht nötig, in die Welt einzugreifen», erklärt Volker Gerhardt, emeritierter Professor für Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität.
Und was kann uns das heute noch sagen? «Kant hat einen Mittelweg aufgezeigt zwischen den Atheisten und den Dogmatikern», sagt Volker Gerhardt. Mit religiösem Fanatismus hätte der Aufklärer nichts anfangen können. Denn fanatische Gläubige lassen sich von ihrer Religion vorschreiben, was richtig und was falsch ist. «Kant hätte gesagt, dass sie die Religion nicht verstanden haben», sagt Volker Gerhardt.
Frieden ist möglich
Mit Kants Religionsverständnis sind auch plurale Gesellschaften kein Problem. Denn er ist überzeugt: Wenn die Menschen selbst die Moral bestimmen, dann gibt es einen Wertekern, den alle Religionen teilen. Wenn sich plurale Gesellschaften darauf berufen, sollten sie keine Probleme haben, den religiösen Frieden zu erhalten.
Der deutsche Schriftsteller und Romantiker Heinrich Heine hat Immanuel Kant in seiner ironischen Art zwar vorgeworfen, er habe den Himmel entvölkert und Gott im eigenen Blute schwimmend zurückgelassen. Doch schaut man sich Kants Religionsphilosophie genau an, so hat Kant weder Gott noch die Religion umgebracht. Er hat sie nur neu gedacht und versucht, Vernunft und Glaube unter einen Hut zu bringen.