SRF: Wie sind Renaissance und Reformation miteinander verknüpft?
Jan-Friedrich Missfelder: Die Renaissance kann als übergreifende Epoche verstanden werden. Sie schliesst auch die Reformation mit ein. Die Verbindung ergibt sich vor allem über den Humanismus: Humanisten forderten damals «ad fontes», also «zurück zu den Quellen».
Zu welchen Quellen?
Zu den antiken Quellen, aber natürlich auch zu den christlichen Quellen: zu den Texten der Bibel und jenen der Kirchenväter.
Die Kirchenkritik verbindet einzelne Vertreter des Humanismus mit den Reformatoren. Beide übten Kritik an den Zuständen in den Kirchen, Kritik an Formen der Frömmigkeit, aber auch an Autoritäten. Dabei bezogen sie sich auf die wiederentdeckten Urtexte.
Wie kommt es, dass sich die beiden Grossereignisse in der gleichen Zeit und fast am gleichen Ort entwickelten?
Viele Reformatoren fühlten sich vom humanistischen Denken angezogen und entwickelten es weiter. Aber natürlich lässt sich das eine nicht unmittelbar vom anderen ableiten.
In Italien, dem Heimatland der Renaissance und Ursprungsland des Humanismus, gab es keine erfolgreichen reformatorischen Bewegungen. Es gab zwar solche Bewegungen, aber sie scheiterten.
Luther interessierte sich wohl schlicht nicht für naturwissenschaftliche Entdeckungen.
An einigen Errungenschaften der Renaissance hatten die Reformatoren keine Freude. Die Entdeckung des Kopernikus zum Beispiel, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, war ihnen ein Dorn im Auge.
Von Martin Luther ist eine einzige Bemerkung zum kopernikanischen Weltbild überliefert, die man mit viel Mühe als Kritik lesen kann. Er hat sich wohl für naturwissenschaftliche Entdeckungen schlicht nicht interessiert, wie die meisten Reformatoren.
Ihr Anliegen war ein anderes: Sie suchten nach neuen religiösen Perspektiven. Zugleich war die Reformation auch eine grosse Bildungsbewegung. In dieser Hinsicht gibt es also einen Zusammenhang zwischen Reformation und Wissenschaften.
Ist die sinnliche, farbenprächtige italienische Renaissance nicht das Gegenstück zur nüchternen Reformation?
Gegenfrage: Passen «Renaissance», «italienisch» und «katholisch» denn so glatt aufeinander? Darüber könnte man nachdenken. Renaissance ist über weite Strecken eine städtische und höfische Kultur.
Die bürgerlichen und höfischen Eliten in Norditalien waren nicht immer deckungsgleich mit «katholisch» oder «kirchlich». Andererseits «investierte» die Kultur der Renaissance sehr wohl auch im religiösen Bereich.
Zielten denn auch die Eliten der italienischen Renaissance auf Erlösung im Jenseits?
Es ging stets um beides: um weltliche Repräsentation, aber auch um das persönliche Seelenheil der Bürger und Fürsten.
Darin unterschieden sich die lutherischen Fürsten nördlich der Alpen kaum von ihren Standesgenossen in Italien. Die lutherischen Fürsten investierten einfach anders. Sie gründeten zum Beispiel Universitäten.
Luther war nicht jemand, mit dem man sich einfach «schmücken» konnte.
Hat sich denn Kurfürst Friedrich der Weise mit Luther «geschmückt»?
Das kann man so sagen. Die neue, hippe Universität Wittenberg war ein Prestigeprojekt des aufstrebenden Kurfürsten von Sachsen. Hierhin wurde Luther berufen. Doch Luther war nicht jemand, mit dem man sich einfach «schmücken» konnte.
Luther verstand sich als unmittelbar zu Gott. Er war kein Höfling, sondern wollte als unabhängiger, individueller Gelehrter gesehen werden. Dass er dabei dem Fürsten zu mehr Ansehen verhalf, das mag Luther selber nicht klar gewesen sein.
Viele Gelehrte und Erfinder der Renaissance waren Zeitgenossen des Reformators Martin Luther. Könnte man Martin Luther auch als Erfinder bezeichnen?
Es gibt eine gemeinsame Dynamik, aber die Analogie funktioniert nicht. Luther erfand keine Religion, sondern er re-formierte die christliche Religion. Er führte sie zurück zu dem, was in seinen Augen das richtige, ursprüngliche Christentum war.
Das Interview führte Christa Miranda.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Religion, 17.9.2017, 10 Uhr.