Angela Shisheesh erinnert sich genau an den ersten Tag in der «St. Anne's Indian Residential School»: an die lange Bootsfahrt, an Priester und Nonnen in schwarzen Gewändern, mit ihrer fremden Sprache.
«Ich klammerte mich an meine ältere Schwester, aber wir wurden auseinandergerissen», erzählt Shisheesh. Man habe sie in eine Badewanne gesteckt, ihr die Haare abgeschnitten und sie mit Petroleum eingesprüht, gegen Flöhe und Nissen.
Shisheesh war sieben Jahre alt, zum ersten Mal fort von zu Hause. Sie stammt aus der «Attawapiskat First Nation», einem weit abgelegenen Reservat an der James Bay, einer grossen Meeresbucht im Norden der Provinz Ontario.
«Ich war am Boden zerstört, ich weinte, weil ich meine Mutter und meinen Vater vermisste», erinnert sich Shisheesh an diese Zeit anfangs der 1950er-Jahre. Ihr Volk, die Cree, lebt bis heute in den kleinen Reservaten, eng verbunden mit dem schier endlosen Land an der James Bay. Die St. Anne's muss für die Kinder ein fremder, beängstigender Ort gewesen sein.
Internate als Umerziehungslager
Über 150'000 Kinder mussten die Residential Schools besuchen. Sie stammten aus allen Volksgruppen: Métis, Inuit und First Nations.
Der Staat hatte das Ziel, alle Ureinwohner zu assimilieren. Sie sollten sich einfügen in die christliche Gesellschaft der Kolonialisten.
Die Residential Schools waren das Instrument dafür: Über Wochen und Monate von ihrem Familien und ihren Gemeinschaften getrennt, sollten die Kinder umerzogen werden. Kultur und Traditionen sollten ihnen ausgetrieben werden.
In der Schule habe sie ihre Sprache, Cree, nicht sprechen dürfen, erzählt Shisheesh: «Sie sagten, das sei eine böse Sprache und mein Grossvater und meine Urgrossväter hätten den Teufel angebetet. Ich fühlte mich wie ein Insekt, ein Nichts, so sehr schämte ich mich dafür, wer ich war.»
Missbrauch, Gewalt und Demütigung
Die Schulen waren unterfinanziert und überfüllt, die Kinder vielfach unterernährt. Ansteckende Krankheiten grassierten, vor allem Tuberkulose. Gewalt und Missbrauch waren weit verbreitet.
Tausende Kinder starben in den Internaten, die von den Kirchen – meistens von der katholischen – geführt wurden. Besonders berüchtigt war die St. Anne's.
Angela Shisheesh erinnert sich daran, wie sie das fremde Essen nicht vertrug und erbrechen musste. Eine Nonne habe ihren Kopf an den Haaren zurückgezogen und sie gezwungen, das Erbrochene zu essen.
Sie erinnert sich, wie sie von einem Priester sexuell missbraucht wurde – und daran beinahe zugrunde ging. Die Polizei interviewte in den 1990er-Jahren hunderte von Überlebenden der Schule und hörte viele derartige Geschichten.
Manche erzählten auch von einem elektrischen Stuhl, mit dem die Buben bestraft worden seien. Viele der Probleme in den Reservaten werden auf das Trauma der Schulen zurückgeführt: Alkoholismus, Drogensucht oder die hohe Suizidrate.
«Ich liebe meine Sprache, ich respektiere meine Sprache»
Die letzte Residential School wurde 1996 geschlossen. Die Opfer wurden vom Staat finanziell entschädigt – und 2008 entschuldigte sich Premierminister Stephen Harper im Parlament für das Unrecht.
Eine Wahrheitsfindungskommission arbeitete das düstere Kapitel auf und kam 2015 zum Schluss, das System der Residential Schools komme einem kulturellen Genozid gleich.
Kanada wurde dieses Jahr daran erinnert, wie weit der Weg zur «Reconciliation», zur Versöhnung mit den Indigenen noch ist: Über eintausend vergessene Gräber wurden gefunden. Darin werden Kinder vermutet, gestorben in den Schulen.
Auch Angela Shisheesh kann noch nicht abschliessen: Sie und andere Überlebende der «St. Anne's» kämpfen seit Jahren vor Gericht für eine angemessene Entschädigung für das Durchlebte. Shisheesh ist heute eine «Elder» ihres Volkes, eine besonders angesehene weise Frau. In einem Kulturzentrum und kümmert sich um den Erhalt der Cree-Sprache.
Die indigene Kultur hat überdauert. Für manche Überlebende scheint sie heilende Wirkung zu haben. «Ich liebe meine Sprache, ich respektiere meine Sprache», sagt Shisheesh.
Sie bringe der Geschäftsführerin des Kulturzentrums jede Woche einige Worte bei: «Sie können sich nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Mein Herz tanzt, wenn ich sie sprechen höre».