Feuerwerk, Bleigiessen, Glücksbringer: Viele unserer Rituale zum Jahreswechsel haben eine lange Tradition. Schon heidnische Germanen versuchten, böse Geister mit Licht und Lärm zu verjagen. Dieser Aberglaube ist für viele Menschen wichtig, sagt die Volkskundlerin Eva Kreissl. Denn mit Bräuchen wie dem Silvester-Feuerwerk bewältigen wir unser Schicksal.
SRF: Seit wann feiern wir eigentlich den Jahreswechsel so wie heute und zählen die Sekunden bis Punkt Mitternacht rückwärts?
Eva Kreissl: Das ist eine Folge der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Durch sie wurden punktgenaue Zeiteinteilungen erst wichtig. In den Jahrhunderten zuvor wurde die Jahreswende als Zeitraum und nicht als Zeitpunkt gesehen. Zwischen dem alten Jahr, das mit der Wintersonnenwende sein kosmologisches Ende erreicht hatte, und dem neuen Jahr, das mit dem 6. Januar begann, lag eine Spanne des Übergangs.
Die sogenannten Rauhnächte?
Ja. Diese Übergangszeit war ein undefinierter Zeitraum, wo das Alte zwar abgeschlossen war, das Neue jedoch noch nicht begonnen hatte. Die Phase galt als gefährdend und war zugleich voller Hoffnung auf das Neue. Wichtig war, alte Arbeiten beendet zu haben.
Mit Orakeln wurde versucht, zukünftige Ereignisse vorauszusagen. Heute kennen wir noch das Bleigiessen. Oder die Glücksbringer, die schon in der Antike verschenkt wurden, um anderen Glück zu wünschen.
Gibt es ein Zeitalter, in dem Menschen besonders auf Rituale vertrauten?
In unterschiedlichen. Das Lesen von Zeichen in der Natur zur Deutung des eigenen Schicksals und der Versuch, sie zu beeinflussen, gehören wohl zu den ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Die zahlreichen Orakel während der Rauhnächte lassen sich seit dem 17./18. Jahrhundert nachweisen.
Aberglaube ist eine Kulturtechnik.
Sie zählen zu den «Dienstbotenbräuchen». Die sehr grosse Bevölkerungsschicht der Knechte und Mägde lebte ein unstetes, unsicheres Leben und viele versuchten, in Übergangszeiten durch diese Orakel vorauszuahnen, was auf sie zukommt.
Das Silvester-Feuerwerk ist heute vielerorts ein Ritual. Wieso begrüssen wir das neue Jahr mit Licht und Lärm?
Lärm ist ein Brauch-Element, das der Abwehr, aber auch der Freude dient. Das gilt nicht nur zu Silvester. Schlechte Einflüsse, aber auch eigene Ängste sollen durch Lärm verschreckt werden. Zudem ist Lärm ein Ausdruck elementarer Lebenslust und Vorfreude.
Das Gleiche gilt für Feuerwerke. Sie werden veranstaltet, um das Gewesene zu ehren und das Kommende zu begrüssen, sei es bei einer Hochzeit, einem Geburtstag, einem Grossereignis – oder eben zu Silvester.
Weshalb bedienen wir uns bis heute noch solcher Rituale wie Feuerwerk und Bleigiessen?
In unserem abgesicherten Leben gehen wir anders mit Ungewissem und Bedrohlichem um. Wir haben gelernt, Ängste zu rationalisieren.
Mit Ritualen machen wir Ängste fassbar.
Eine andere Umgangsweise ist, unfassbaren oder unwägbaren Erscheinungen und Ängsten eine Gestalt zu geben und durch Rituale fassbar zu machen. So gesehen ist «Aberglaube» eine Kulturtechnik und dient der Bewältigung des eigenen Schicksals.
Wenn Aberglaube so wichtig ist, weshalb hat der Begriff einen so fahlen Beigeschmack?
Weil er bereits als negative Abgrenzung geprägt wurde, zunächst von den religiösen Institutionen, dann von Medizin, Wissenschaft und Technik. Sie alle erkennen nicht an, dass es ein anderes Weltverständnis geben kann als das ihre.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.