Egal, ob eine Frau Vollzeit arbeitet, Teilzeit oder gar nicht: Wenn es um den Nachwuchs geht, gilt sie in aller Regel als erste Ansprechperson. Müssen Eltern benachrichtigt werden, greifen auch fortschrittliche Lehr- und Betreuungspersonen oft instinktiv zur Nummer der Mutter.
Und wenn sie den Hörer nicht abnehmen kann, findet sie später unter Umständen mehrere Anrufversuche auf ihrem Display, während der Vater, der seine Nummer ebenfalls hinterlegt hat, keinen einzigen bekommt.
Das herrschende Mutter-Ideal verlangt, dass die Mutter das Kind jederzeit an die erste Stelle setzt und berufliche Ambitionen hinten anstellt. Wenn ein Mann aus familiären Gründen 80 Prozent arbeitet, gilt er als Superdaddy. Macht eine Frau dasselbe, hört sie unweigerlich die Frage: «Was, soviel?»
Vollzeit-Mütter am Anschlag
Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm hat mit Büchern wie «Lasst die Kinder los» (2016) und «Neue Väter brauchen neue Mütter» (2018) viel Resonanz erfahren.
Bei ihrem jüngsten Buch «Du musst nicht perfekt sein, Mama!» sind die Reaktionen zumindest in der Schweiz verhaltener. Am Mythos Supermama mag offenbar kaum jemand so richtig rütteln.
Margrit Stamms Forschungen zeigen, dass selbst Vollzeit-Mütter dem Ideal nicht entsprechen können und an den Anschlag kommen. Gerade weil sie sich ganz der Familie verschreiben, stellen sie oft sehr hohe Erwartungen an sich. Doch die Realität zeigt: Vollzeit-Mütter sind nicht per se bessere Mütter.
Schuldgefühle und andere Nebenwirkungen
Ob Hausfrau, Teil- oder Vollzeitlerin: Das Ideal der Supermama gilt für alle. Die Folge: Viele Frauen leiden unter einem permanenten Druck, haben ein schlechtes Gewissen und leiden unter Schuldgefühlen.
Und wenn es mit den Kindern nicht rund läuft, stellen sie sich sofort die Frage: «Was habe ich falsch gemacht?»
Der Schaden für die Kinder
Laut Margrit Stamm ist das Ideal der Supermama seit 20 Jahren ungebremst hoch im Kurs. Dazu trage auch die Forschung bei – insbesondere Entwicklungspsychologie, Bindungstheorie und Hirnforschung.
Hinzu kommen Kinderärzte, Mütter- und Väterberatung und andere Beratungsstellen, die vor allem die Bedürfnisse des Kindes ins Zentrum stellen.
Nur: Das kann Eltern und insbesondere Mütter enorm unter Druck setzen und verunsichern. Das Ideal der Supermama überhöhe die Mutterrolle und schade neben Mutter und Vater auch den Kindern, ist Margrit Stamm überzeugt.
Denn: «Die können aufgrund der Überbetreuung und Überbindung nicht selbstständig werden, Herausforderungen kaum allein meistern und auch nicht lernen, mit Niederlagen umzugehen.»
Die «Good-enough-mother»
Bleibt die Frage, wie Mütter aus der Perfektionsfalle wieder rausfinden. Die Mutterideologie sei kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem, so Stamm.
Nötig sei ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel, der die Rolle der guten Mutter realistisch definiere und gleichzeitig die Erziehungs- und Familienarbeit aufwerte. Aus der «intensiven Mutter» solle eine «hinreichend gute Mutter» werden – eine «good-enough mother».
Margrit Stamm verweist in ihrem erhellenden und flüssig geschriebenen Buch auf den britischen Kinderarzt und Kinderpsychoanalytiker Donald Woods Winnicott, der diesen Begriff bereits vor gut 30 Jahren geprägt hat.
Zeit, dass er in Mode kommt.