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Saccharin-Schmuggel: Ein weisses Pulver sorgt für Aufregung
Aus Zeitblende vom 06.04.2024. Bild: Spyridon Sartoris/Nebelspalter, Band 38 (1912), Heft 50
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Saccharin-Schmuggel Als das weisse Pulver die Schweiz auf Trab hielt

Anfang des 20. Jahrhunderts geriet ein Basler Polizist ins Visier der Justiz. Der Vorwurf: Saccharin-Schmuggel. Auf den Spuren eines bittersüssen Kriminalfalls.

Der Basler Polizist Adolf Schuppisser erlebt am Gründonnerstag 1912 eine böse Überraschung: Gegen ihn liegt ein Haftbefehl in Deutschland vor. Er solle den künstlichen Süssstoff Saccharin über die Grenze geschmuggelt haben.

Landjäger Schuppisser wird sofort suspendiert, muss Uniform und Bewaffnung abliefern. Er solle sich in Deutschland stellen und das Missverständnis aufklären, fordern seine Vorgesetzten.

Schreiben der Staatsanwaltschaft Freiburg
Legende: Die Staatsanwaltschaft Freiburg im Breisgau informiert die Basler Polizei am 2. April 1912: «Ich teile ergebenst mit, dass gegen den Polizeimann Schuppisser dortselbst richterlicher Haftbefehl wegen Sacharinschmuggels besteht.» Staatsarchiv Basel-Stadt, Handel und Gewerbe BB 20/Barbara Mathys

Saccharin war der erste künstliche Süssstoff und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast ganz Europa verboten. Nur Personen mit Diabetes konnten ihn in kleinen Mengen in Apotheken erwerben. Entdeckt wurde Saccharin vom deutschen Chemiker Constantin Fahlberg 1879 per Zufall bei Experimenten mit Steinkohlenteer.

Massgebend für das Verbot war das lohnende Geschäft mit dem Zucker. Rübenzucker war Ende des 19. Jahrhunderts das wichtigste Exportgut von Staaten wie Deutschland oder Österreich-Ungarn. Von diesem Geschäft profitierte aber nicht nur die Zuckerindustrie, sondern auch die Staaten: Zucker wurde stark besteuert.

Eine kurze Geschichte des Zuckers

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Um das Jahr 1000 gelangte der erste Zucker aus dem Orient in die Schweiz. Die Rarität war teuer und diente ausschliesslich als Medikament oder als Gewürz für Fleisch, Fisch oder Gemüse.

Nach der Entdeckung Amerikas mauserte sich der Zucker zu einer typischen Kolonialware, sein Handel ermöglicht durch Sklavenarbeit. Zucker blieb aber ein Luxus, den sich bis ins 18. Jahrhundert nur Adelige und vermögende Bürger leisten konnten.

Im 19. Jahrhundert begann in Europa der Aufstieg der Zuckerrübe als Zuckerlieferant, eines der ersten industriell erzeugten Lebensmittel. Zucker wurde erschwinglicher, verlor – vor allem in den reicheren Ländern – sein Prestige.

Zucker blieb aber ein schützenswertes Geschäft, nicht nur für die Industrie, sondern – über eine hohe Besteuerung – auch für zahlreiche europäische Staaten.

Der neu entdeckte künstliche Süssstoff Saccharin bedrohte das Geschäft mit dem Zucker. Saccharin ist billig in der Herstellung und viel süsser als Zucker. Laut Historiker Christoph Maria Merki liegt hier der Hauptgrund für die Saccharin-Verbote Anfang des 20. Jahrhunderts.

Polizist Adolf Schuppisser beteuert seine Unschuld in einem Brief, den er an seinen obersten Vorgesetzten, den Basler Regierungsrat und Polizeivorsteher Hermann Blocher, schreibt. Der Brief ist einer von zahlreichen überlieferten Briefen, die sich in der Akte Schuppisser im Basler Staatsarchiv finden. In einem seiner Briefe schreibt er: «Ich bin vollständig unschuldig. Ich habe weder selbst geschmuggelt, noch mich irgendwie am Schmuggel beteiligt.»

Zeichnung eines Schmugglerpaares bei der Arbeit
Legende: Die Zeichnungen aus dem «Nebelspalter»-Artikel «Schmugglerballade» zeigen, wie ein Schmugglerpaar Saccharin unter seinen Kleidern über den Zoll bringen will: «Es schien, dass er an Fettsucht leide. Sie hatte brustwärts zwei Ballons.» Spyridon Sartoris / Nebelspalter, Band 38 (1912), Heft 50

Schuppisser fürchtet, dass er in Untersuchungshaft käme, sollte er sich in Deutschland stellen. Ein grosses Risiko für den jungen Polizisten und seine schwangere Ehefrau. Einige Wochen später schildert er seine Situation: «Weil ich nur abwechslungsweise Arbeit habe, der Verdienst kaum für den Lebensunterhalt reicht, werden meine Verhältnisse total zerrüttelt, sodass ich ein gebrochener Mann werden muss.»

Legale Produktion und Handel in der Schweiz

In der Schweiz war der künstliche Süssstoff Saccharin nie verboten. Dies habe mit der liberalen Tradition der Schweiz zu tun, erklärt Historiker Marco Polli: «1848 wird der Bundesstaat gegründet, ein liberaler Bundesstaat mit ganz vielen Freiheiten, unter anderem Gewerbefreiheit.»

Fotografie eines Messestandes mit Saccharin
Legende: Eine chemische Fabrik stellte den künstlichen Süssstoff Saccharin ins Zentrum ihres Messestandes an der Schweizer Mustermesse in Basel 1918. Keystone / A. Teichmann

Für das fehlende Saccharin-Verbot war aber auch die Branchenstruktur der Schweizer Wirtschaft massgebend, zeigt Historiker Merki: Aus Rücksicht auf die einheimische Schokoladenproduktion wurde Zucker hier kaum besteuert. Zudem sei der künstliche Süssstoff zu einem wichtigen Standbein für die junge chemische Industrie geworden – für Firmen wie Sandoz und Ciba.

Im Sommer 1912 wird es eng für den Polizisten Adolf Schuppisser: Die deutschen Behörden haben einen Zeugen, den elsässischen Spengler Gustav Onimus.

Armut war der Treiber für die Durchführung dieser sehr strapaziösen Schmuggelunterfangen.
Autor: Marco Polli Historiker

Und ein paar Wochen später packt Zeuge Onimus bei einer Vernehmung im Lohnhof, dem Basler Polizeidepartement, aus: «Ich allein habe 230 Kilogramm über die Grenze gebracht. Schuppisser hatte jedes Mal gleich viel wie ich.» Schuppisser habe ihm einen guten Lohn angeboten, wenn er ihm beim Saccharin-Schmuggel helfen würde.

Vernehmungsprotokoll Gustav Onimus
Legende: Das Vernehmungsprotokoll zeigt auf, was Spengler Gustav Onimus auf dem Polizeidepartement gegen den suspendierten Polizisten Adolf Schuppisser aussagte. Staatsarchiv Basel-Stadt, Handel und Gewerbe / Barbara Mathys

«Schuppisser hatte jede Woche einen freien Tag, welchen er zum Schmuggeln benutzte. Als ehemaliger Grenzwächter kannte er die Grenze ganz genau. Jeder von uns trug jeweilen 15 Kilogramm über die Grenze. Dort wurde das Sacharin versteckt. Wir kehrten dann zurück, holten unsere Velos, schnallten die Pakete aufs Rad und fuhren so nach Freiburg», steht im Vernehmungsprotokoll.

Ein Weg aus der Armut?

Zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer versuchten vor dem Ersten Weltkrieg ihr Glück mit dem Saccharin-Schmuggel, vor allem in Zürich und Basel. Zeitgenössische Schätzungen gingen davon aus, dass 1912 über 1000 Personen in Zürich vom Saccharin-Schmuggel lebten, schreibt Christoph Maria Merki in seiner Arbeit über die Geschichte des Saccharins.

Fotografie von Schmugglern mit Ware
Legende: Eine Postkarte zeigt Schmuggler unterwegs mit ihrer Ware an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich. Sozialarchiv / L. Michaux / F_5068-Ka-0737

Viele hätten sich einen Ausweg aus der Armut erhofft, sagt Historiker Marco Polli, der den Schmuggel in der Schweiz erforscht hat: «Man kann sagen, dass die Armut der Treiber gewesen ist für die Durchführung dieser sehr strapaziösen Schmuggelunterfangen.»

Schlagzeilen über die Schmuggelmethoden

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Fast täglich berichteten Zeitungen über den Saccharin-Schmuggel:

  • «Ein düsterer Leichenzug bewegte sich an einem der letzten Tage über die schweizerische Grenze. Den deutschen Zollwächtern war es wiederholt aufgefallen, dass seit einiger Zeit merkwürdig viele tote Schweizer auf deutschem Boden begraben wurden. Diesmal nahmen sie sich nun die Freiheit, den Zug anzuhalten und den Sarg zu öffnen; aber welche Überraschung, als sie den Deckel in die Höhe hoben: statt des Toten fanden sie mehrere Zentner wohlverpackten Saccharins darin.»
    «Neue Zürcher Zeitung», 11. September 1913
  • «Der Saccharin-Schmuggel nimmt nicht ab am Bodensee trotz der scharfen Kontrolle und den gesalzenen Urteilen, welche die Schmuggler zu gewärtigen haben. Gegenwärtig sollen namentlich die vorarlbergischen Gefängnisse mit Saccharin-Schmugglern überfüllt sein. Es vergeht auch kaum ein Tag, ohne dass aus den Bodenseestädten eine Verhaftung gemeldet wird.»
    «Neue Zürcher Zeitung», 17. September 1913
  • «Während der letzten Feiertage kam in der Grenzstation Buchs mit dem Nachtschnellzug Zürich-Innsbruck-Wien eine Krankenschwester an, die wegen ihrer aussergewöhnlichen Körperentwicklung den österreichischen Zollbeamten auffiel. Die Krankenschwester musste sich daher in das Zimmer begeben und wohl oder übel die Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Dabei stellte sich heraus, dass die Schwester zehneinhalb Kilo Saccharin auf sich trug. Als der Zollbeamte die Saccharinschwester nun weinend vor sich sah, erfasste ihn Mitleid und er liess die verkleidete Schmugglerin wieder laufen.»
    «Neue Zürcher Zeitung», 5. November 1913

Bei der Basler Polizei überschlagen sich im späten Sommer 1912 die Ereignisse: Adolf Schuppisser soll sich des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht haben. Er soll sich gegenüber einem Saccharinhändler als Polizist ausgewiesen haben, der ein Paket Saccharin «in offiziellem Auftrag» zum Polizeidepartement, dem Lohnhof, bringen sollte, heisst es in einem Polizeibericht.

Nur: Schuppisser ist suspendiert. Und einen offiziellen Auftrag gibt es nicht. Darum wird Schuppisser jetzt endgültig entlassen und angeklagt.

Schweiz als Schmuggelparadies?

Der florierende Saccharin-Schmuggel brachte die Schweiz international in Bedrängnis. «Die umliegenden Monarchien hatten überhaupt kein Verständnis für die Haltung der Schweiz», bilanziert Historiker Marco Polli.

Fotografie des Lohnhof Basel am Barfüsserplatz
Legende: Er beherbergte früher das Polizeidepartement und das Gefängnis in Basel: Der Lohnhof überragt den Barfüsserplatz. Keystone/Georgios Kefalas

Auch der Druck auf die Schweizer Wirtschaft stieg. 1907 beschuldigte die deutsche Regierung die chemischen Fabriken in der Schweiz, «stark am Süssstoffschmuggel beteiligt» zu sein. Immerhin war der künstliche Süssstoff für die chemisch-pharmazeutische Industrie zum mit Abstand wichtigsten Exportprodukt geworden, schreibt Historiker Christoph Maria Merki.

Dass die Industrie aktiv am Schmuggel beteiligt gewesen ist, sieht die Forschung nicht bestätigt. Allerdings habe die chemische Industrie erst spät gehandelt und nicht so konsequent, wie es hätte sein können, bilanziert Merki.

Schuppisser ist seit 8 Tagen flüchtig und von Basel verschwunden.
Autor: Polizeiakten Staatsarchiv Basel-Stadt

Im September 1912 kommt es zum Prozess vor dem Basler Strafgericht gegen den ehemaligen Polizisten Adolf Schuppisser. Er wird des Amtsmissbrauchs schuldig gesprochen und muss für drei Wochen ins Gefängnis.

«Schuppisser ist seit 8 Tagen flüchtig und von Basel verschwunden», heisst es in einer Polizeiakte. Nun wird der Polizist von seinen ehemaligen Kollegen zur Fahndung ausgeschrieben. Erst über ein Jahr später wird er in Luzern gefunden. Da es noch kein Bundesstrafrecht gibt, beantragt der Kanton Basel-Stadt unverzüglich seine Auslieferung beim Kanton Luzern.

Schmuggler: eine Art Robin Hood?

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Gesellschaftlich hatte Schmuggel kaum Nachteile: Trotz ihrer Tätigkeit hätten Schmugglerinnen und Schmuggler ein gutes Ansehen gehabt und seien nicht isoliert worden, sagt Historiker Marco Polli.

Das sei ein bekanntes Phänomen, das unter anderem auch vom britischen Historiker Eric Hobsbawm beschrieben worden sei. Dieser spreche in diesem Zusammenhang von Sozialrebellen oder Sozialbanditen: «Man könnte sagen, eine Art Robin Hood, welche der lokalen Bevölkerung zu Waren zu moderaten Preisen verhalf.»

In einem Brief an Regierungsrat Hermann Blocher verlangt der Flüchtige einen Aufschub der Haft – und schildert, wie es ihm ergangen ist: «Während mehr als einem Jahre war ich ohne richtigen Verdienst, sodass ich sehr zurückgekommen bin. Meine Heimatsgemeinde musste meine Familie unterstützen.»

Er arbeite als Spengler und hoffe, diese Anstellung nicht durch einen Gefängnisaufenthalt zu gefährden. Der Polizeivorsteher gewährt ihm denn auch zweimal einen Aufschub der Haft. Ein Dritter wird abgelehnt.

Im Ersten Weltkrieg wird Saccharin legal

Der Druck auf die Schweiz wuchs: Im Sommer 1909 lud die französische Regierung zu einer internationalen Konferenz, der ersten Saccharin-Konferenz. Der Schweizer Vertreter Charles Lardy wurde vom Bundesrat angewiesen, «eine ganz ablehnende Haltung einzunehmen» und «keinerlei Zugeständnisse zu machen».

Doch die Schweiz zog den Kürzeren. An der zweiten Saccharin-Konferenz 1913 wurde beschlossen, dass Saccharin als Zusatz bei der Fabrikation von Lebensmitteln verboten werden sollte. Zudem sollte der Handel mit Saccharin – auch grenzüberschreitend – kontrolliert werden.

Fotografie von alten Saccharin-Schachteln, blau-weisse Verpackungen in brauner Kartonschachtel, im Deckel blaue Schrift
Legende: Saccharin im deutschen Handel: Der Süssstoff ist 300 bis 700 Mal süsser als dieselbe Menge Zucker. Wikimedia Commons / FA2010

Unterzeichnet wurden diese Regelungen allerdings nie, denn der Erste Weltkrieg kam dazwischen. Schmuggel war plötzlich eine Nebensache. Und da Zucker knapp war und rationiert wurde, hoben zahlreiche Staaten das Saccharin-Verbot auf. Saccharin wurde nun zum legalen Ersatzprodukt für Zucker. Der Schmuggel rentierte sich nicht mehr.

Brief von Adolf Schuppisser aus dem Gefängnis
Legende: Der ehemalige Basler Polizist Adolf Schuppisser bittet Regierungsrat Hermann Blocher, ihm die 38 Stunden, welche er in Luzern inhaftiert gewesen sei, an die Haft anzurechnen. Diesen letzten Brief schreibt Schuppisser nicht auf seinem üblichen Briefpapier, sondern auf dem offiziellen Briefpapier der Strafanstalt Basel-Stadt. Staatsarchiv Basel-Stadt, Handel und Gewerbe / Barbara Mathys

In Basel vergeht die Zeit. Unterdessen ist Februar 1914 und der ehemalige Polizist Adolf Schuppisser schreibt seinen letzten überlieferten Brief an Regierungsrat Blocher. Was später mit ihm und seiner Familie passiert, und ob er sich je für den Saccharin-Schmuggel in Deutschland verantworten musste, bleibt unklar. Seinen letzten Brief schreibt er jedenfalls aus der Basler Strafanstalt.

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Radio SRF 4 News, Zeitblende, 6.4.2024, 10:03 Uhr

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