Der Basler Polizist Adolf Schuppisser erlebt am Gründonnerstag 1912 eine böse Überraschung: Gegen ihn liegt ein Haftbefehl in Deutschland vor. Er solle den künstlichen Süssstoff Saccharin über die Grenze geschmuggelt haben.
Landjäger Schuppisser wird sofort suspendiert, muss Uniform und Bewaffnung abliefern. Er solle sich in Deutschland stellen und das Missverständnis aufklären, fordern seine Vorgesetzten.
Saccharin war der erste künstliche Süssstoff und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast ganz Europa verboten. Nur Personen mit Diabetes konnten ihn in kleinen Mengen in Apotheken erwerben. Entdeckt wurde Saccharin vom deutschen Chemiker Constantin Fahlberg 1879 per Zufall bei Experimenten mit Steinkohlenteer.
Massgebend für das Verbot war das lohnende Geschäft mit dem Zucker. Rübenzucker war Ende des 19. Jahrhunderts das wichtigste Exportgut von Staaten wie Deutschland oder Österreich-Ungarn. Von diesem Geschäft profitierte aber nicht nur die Zuckerindustrie, sondern auch die Staaten: Zucker wurde stark besteuert.
Der neu entdeckte künstliche Süssstoff Saccharin bedrohte das Geschäft mit dem Zucker. Saccharin ist billig in der Herstellung und viel süsser als Zucker. Laut Historiker Christoph Maria Merki liegt hier der Hauptgrund für die Saccharin-Verbote Anfang des 20. Jahrhunderts.
Polizist Adolf Schuppisser beteuert seine Unschuld in einem Brief, den er an seinen obersten Vorgesetzten, den Basler Regierungsrat und Polizeivorsteher Hermann Blocher, schreibt. Der Brief ist einer von zahlreichen überlieferten Briefen, die sich in der Akte Schuppisser im Basler Staatsarchiv finden. In einem seiner Briefe schreibt er: «Ich bin vollständig unschuldig. Ich habe weder selbst geschmuggelt, noch mich irgendwie am Schmuggel beteiligt.»
Schuppisser fürchtet, dass er in Untersuchungshaft käme, sollte er sich in Deutschland stellen. Ein grosses Risiko für den jungen Polizisten und seine schwangere Ehefrau. Einige Wochen später schildert er seine Situation: «Weil ich nur abwechslungsweise Arbeit habe, der Verdienst kaum für den Lebensunterhalt reicht, werden meine Verhältnisse total zerrüttelt, sodass ich ein gebrochener Mann werden muss.»
Legale Produktion und Handel in der Schweiz
In der Schweiz war der künstliche Süssstoff Saccharin nie verboten. Dies habe mit der liberalen Tradition der Schweiz zu tun, erklärt Historiker Marco Polli: «1848 wird der Bundesstaat gegründet, ein liberaler Bundesstaat mit ganz vielen Freiheiten, unter anderem Gewerbefreiheit.»
Für das fehlende Saccharin-Verbot war aber auch die Branchenstruktur der Schweizer Wirtschaft massgebend, zeigt Historiker Merki: Aus Rücksicht auf die einheimische Schokoladenproduktion wurde Zucker hier kaum besteuert. Zudem sei der künstliche Süssstoff zu einem wichtigen Standbein für die junge chemische Industrie geworden – für Firmen wie Sandoz und Ciba.
Im Sommer 1912 wird es eng für den Polizisten Adolf Schuppisser: Die deutschen Behörden haben einen Zeugen, den elsässischen Spengler Gustav Onimus.
Armut war der Treiber für die Durchführung dieser sehr strapaziösen Schmuggelunterfangen.
Und ein paar Wochen später packt Zeuge Onimus bei einer Vernehmung im Lohnhof, dem Basler Polizeidepartement, aus: «Ich allein habe 230 Kilogramm über die Grenze gebracht. Schuppisser hatte jedes Mal gleich viel wie ich.» Schuppisser habe ihm einen guten Lohn angeboten, wenn er ihm beim Saccharin-Schmuggel helfen würde.
«Schuppisser hatte jede Woche einen freien Tag, welchen er zum Schmuggeln benutzte. Als ehemaliger Grenzwächter kannte er die Grenze ganz genau. Jeder von uns trug jeweilen 15 Kilogramm über die Grenze. Dort wurde das Sacharin versteckt. Wir kehrten dann zurück, holten unsere Velos, schnallten die Pakete aufs Rad und fuhren so nach Freiburg», steht im Vernehmungsprotokoll.
Ein Weg aus der Armut?
Zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer versuchten vor dem Ersten Weltkrieg ihr Glück mit dem Saccharin-Schmuggel, vor allem in Zürich und Basel. Zeitgenössische Schätzungen gingen davon aus, dass 1912 über 1000 Personen in Zürich vom Saccharin-Schmuggel lebten, schreibt Christoph Maria Merki in seiner Arbeit über die Geschichte des Saccharins.
Viele hätten sich einen Ausweg aus der Armut erhofft, sagt Historiker Marco Polli, der den Schmuggel in der Schweiz erforscht hat: «Man kann sagen, dass die Armut der Treiber gewesen ist für die Durchführung dieser sehr strapaziösen Schmuggelunterfangen.»
Bei der Basler Polizei überschlagen sich im späten Sommer 1912 die Ereignisse: Adolf Schuppisser soll sich des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht haben. Er soll sich gegenüber einem Saccharinhändler als Polizist ausgewiesen haben, der ein Paket Saccharin «in offiziellem Auftrag» zum Polizeidepartement, dem Lohnhof, bringen sollte, heisst es in einem Polizeibericht.
Nur: Schuppisser ist suspendiert. Und einen offiziellen Auftrag gibt es nicht. Darum wird Schuppisser jetzt endgültig entlassen und angeklagt.
Schweiz als Schmuggelparadies?
Der florierende Saccharin-Schmuggel brachte die Schweiz international in Bedrängnis. «Die umliegenden Monarchien hatten überhaupt kein Verständnis für die Haltung der Schweiz», bilanziert Historiker Marco Polli.
Auch der Druck auf die Schweizer Wirtschaft stieg. 1907 beschuldigte die deutsche Regierung die chemischen Fabriken in der Schweiz, «stark am Süssstoffschmuggel beteiligt» zu sein. Immerhin war der künstliche Süssstoff für die chemisch-pharmazeutische Industrie zum mit Abstand wichtigsten Exportprodukt geworden, schreibt Historiker Christoph Maria Merki.
Dass die Industrie aktiv am Schmuggel beteiligt gewesen ist, sieht die Forschung nicht bestätigt. Allerdings habe die chemische Industrie erst spät gehandelt und nicht so konsequent, wie es hätte sein können, bilanziert Merki.
Schuppisser ist seit 8 Tagen flüchtig und von Basel verschwunden.
Im September 1912 kommt es zum Prozess vor dem Basler Strafgericht gegen den ehemaligen Polizisten Adolf Schuppisser. Er wird des Amtsmissbrauchs schuldig gesprochen und muss für drei Wochen ins Gefängnis.
«Schuppisser ist seit 8 Tagen flüchtig und von Basel verschwunden», heisst es in einer Polizeiakte. Nun wird der Polizist von seinen ehemaligen Kollegen zur Fahndung ausgeschrieben. Erst über ein Jahr später wird er in Luzern gefunden. Da es noch kein Bundesstrafrecht gibt, beantragt der Kanton Basel-Stadt unverzüglich seine Auslieferung beim Kanton Luzern.
In einem Brief an Regierungsrat Hermann Blocher verlangt der Flüchtige einen Aufschub der Haft – und schildert, wie es ihm ergangen ist: «Während mehr als einem Jahre war ich ohne richtigen Verdienst, sodass ich sehr zurückgekommen bin. Meine Heimatsgemeinde musste meine Familie unterstützen.»
Er arbeite als Spengler und hoffe, diese Anstellung nicht durch einen Gefängnisaufenthalt zu gefährden. Der Polizeivorsteher gewährt ihm denn auch zweimal einen Aufschub der Haft. Ein Dritter wird abgelehnt.
Im Ersten Weltkrieg wird Saccharin legal
Der Druck auf die Schweiz wuchs: Im Sommer 1909 lud die französische Regierung zu einer internationalen Konferenz, der ersten Saccharin-Konferenz. Der Schweizer Vertreter Charles Lardy wurde vom Bundesrat angewiesen, «eine ganz ablehnende Haltung einzunehmen» und «keinerlei Zugeständnisse zu machen».
Doch die Schweiz zog den Kürzeren. An der zweiten Saccharin-Konferenz 1913 wurde beschlossen, dass Saccharin als Zusatz bei der Fabrikation von Lebensmitteln verboten werden sollte. Zudem sollte der Handel mit Saccharin – auch grenzüberschreitend – kontrolliert werden.
Unterzeichnet wurden diese Regelungen allerdings nie, denn der Erste Weltkrieg kam dazwischen. Schmuggel war plötzlich eine Nebensache. Und da Zucker knapp war und rationiert wurde, hoben zahlreiche Staaten das Saccharin-Verbot auf. Saccharin wurde nun zum legalen Ersatzprodukt für Zucker. Der Schmuggel rentierte sich nicht mehr.
In Basel vergeht die Zeit. Unterdessen ist Februar 1914 und der ehemalige Polizist Adolf Schuppisser schreibt seinen letzten überlieferten Brief an Regierungsrat Blocher. Was später mit ihm und seiner Familie passiert, und ob er sich je für den Saccharin-Schmuggel in Deutschland verantworten musste, bleibt unklar. Seinen letzten Brief schreibt er jedenfalls aus der Basler Strafanstalt.