Es gab kein Gegenmittel. Als die Grippe 1918 in vier Wellen zuschlug, wusste man nicht einmal, warum die Menschen der Reihe nach erkrankten. Rund um den Globus. Jeder dritte Mensch fieberte und hustete. Schüttelfrost. Entzündeter Rachen. Die Haut verfärbte sich blau. 50 bis 100 Millionen verstarben.
Ursache unbekannt
Viren, diese rätselhaften Wesen irgendwo zwischen Leben und Tod, waren noch nicht bekannt. Sie waren nicht zu sehen. Auch unter dem besten damaligen Mikroskop nicht.
So verabreichten die Schulmediziner jener Zeit den Kranken alles, was ihr Arzneischrank hergab: Aspirin, in rohen Mengen. Oder Arsen. Strychnin, ja sogar Quecksilber. Wohlmeinend zwar, aber ohne jede Kenntnis der Ursache des Übels, das die Menschen ans Bett fesselte – und oft ins Grab brachte.
Packende Schilderung
Laura Spinney ist eine begnadete Schreiberin. Als Wissenschaftsjournalistin weiss sie ihr Lesepublikum zu fesseln. Geschickt rollt sie die Geschichte der Spanischen Grippe auf. Sie erzählt von Seuchen, welche bereits die Zivilisationen in der Antike und später im Mittelalter heimsuchten.
Und dann eben die Spanische Grippe, die gar nicht aus Spanien stammte. Der Ursprung der Seuche ist unklar. Sierra Leone oder Boston oder Frankreich? Wir wissen es bis heute nicht.
Wir folgen Laura Spinney bei der Rekonstruktion des Todeszugs, den die Seuche damals antrat. Vermutlich hatten die aggressiven Viren schon lange im Enddarm von Vögeln gelauert – und befielen 1918 den Menschen. Dieser erwies sich als trefflicher Wirt für die Erreger.
Sie profitierten bei ihrer rasenden Verbreitung davon, dass im November 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Die Soldaten kehrten nach Hause und trugen das Virus in die ganze Welt. Für einmal brachte auch der Frieden den Tod.
Leere Fussballstadien
Das Virus suchte die ganze Welt heim. Und von ihr erzählt Laura Spinney: von der Welt, nicht von Europa oder den USA. Die Autorin berichtet über Rio de Janeiro, wo plötzlich in leeren Stadien Fussball gespielt wurde.
Über ein Dorf an der mongolischen Grenze in China: Verzweifelte Bewohnerinnen und Bewohner holen in panischer Angst Statuen des Drachengottes aus dem Tempel. Nur der Allmächtige kann die Seuche jetzt noch stoppen.
Wenig bekannte Katastrophe
Laura Spinney schliesst mit ihrem Werk eine Lücke. Denn die bisherige Forschungsliteratur zur Spanischen Grippe ist sehr überschaubar und überdies oft in einzelnen Artikeln in Fachzeitschriften versteckt.
Durch dieses neue Sachbuch liegt nun eine Synthese vor. Sie überzeugt sowohl durch die enorme Sachkenntnis und den grossen Umfang.
Allerdings überspannt die Autorin den Bogen in ihren Ausführungen gelegentlich auch. Vor allem in den Kapiteln, die der Wirkung der Pandemie im Verlauf der Geschichte nachgehen.
Spinneys These: Indem die Seuche die Welt zwischenzeitlich in ein apokalyptisch anmutendes Seuchenhaus verwandelte, prägte für einmal ein Grippevirus die politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung massgeblich mit.
Spekulationen über die Folgen
So reizvoll die Mutmassungen auch sind, sie sind rein spekulativ und auch etwas abenteuerlich. Ohne Grippe, so Spinney, wäre beispielsweise 1919 eine klügere und nachhaltigere Nachkriegsordnung möglich gewesen .
Indem deren wichtigster Vertreter, US-Präsident Wilson, nämlich auch an der Grippe erkrankte, habe er sich auf dem politischen Parkett nicht mehr durchsetzen können. War dies wirklich so? Vielleicht. Eher wohl aber nicht. Oder besser: Wir wissen es schlicht nicht.
Völlig aus der Luft gegriffen ist es, wenn die Autorin anderer Stelle behauptet, die Spanische Grippe habe 1918 «die Schweiz an den Rand eines Bürgerkriegs manövriert». Gemeint ist der Generalstreik.
Diese Verkürzung ist schlichter Blödsinn. Der Generalstreik wurde durch das Unvermögen des bürgerlichen Bundesrats und des Parlaments ausgelöst, der während des Ersten Weltkriegs gewachsenen sozialen Not in der Arbeiterschaft wirkungsvoll entgegenzutreten.
Spinneys manchmal sehr eigenwilligen Interpretationen verengen den Blick auf die Vergangenheit, anstatt ihn zu öffnen. Und sie wollen so gar nicht zu diesem insgesamt sehr sorgfältigen Sachbuch passen.