Die Verspottung von religiösen Glaubensinhalten soll nicht mehr unter Strafe stehen, fordern Freidenker. Sie wollen den Strafartikel 261 abschaffen. Welche Erfahrungen macht der Nebelspalter mit religiöser Satire?
Der Chefredaktor des ältesten noch existierendes Satiremagazins in der Schweiz sieht die Empfindlichkeiten heute eher bei Veganerinnen, Homöopathen und 5G-GegnerInnen.
SRF: Herr Ratschiller, kann man Witze reissen oder Karikaturen zeichnen, ohne jemandem weh zu tun oder zu diskriminieren?
Marco Ratschiller: Gute Frage. Humor basiert immer darauf, dass man sich über Dinge oder Personen lustig macht. Man kann dies aber mit einem Augenzwinkern tun, so dass Betroffene mit einem gewissen Verständnis reagieren.
Sie entschuldigen sich in einem Editorial dafür, dass mit «Leserinnen und Leser» weder alle Geschlechtsidentitäten noch Analphabeten angesprochen sind. Warum?
Anlass war die zunehmende Empörungskultur, die sich breit macht. Ich habe mich – satirisch zugespitzt – im Voraus dafür entschuldigt, dass ich schon mit der Anrede politisch unkorrekt bin.
Wer das gedruckte Satiremagazin Nebelspalter abonniert, weiss, worauf sie/er sich einlässt. Doch im Netz und in den sozialen Medien erreichen wir auch Leute, die mit unserem Satirebegriff nicht vertraut sind. Dort kann die Empörungskultur schon abgehen.
Zum Beispiel?
Es gab eine Veganer-Nummer, die sich online verbreitete. Dort wurde dann auch richtig getrommelt. Man rief dazu auf, Protestschreiben an uns zu richten. Und die Vegane Gesellschaft Schweiz verlangte eine Gegendarstellung.
Was war die Kritik?
Unsere Darstellung des Veganismus im Themenschwerpunkt wurde als einseitig empfunden. Wir haben eine Gegendarstellung unter einer Bedingung akzeptiert: Sie muss ebenfalls satirisch gebrochen sein, wie jeder Beitrag bei uns.
So hat der Schriftsteller Thomas Meyer dann eine satirische Replik geschrieben. Die wiederum fanden unsere Leserschaft nicht lustig. Auch in der Satire bewegen wir uns mittlerweile in Blasen.
Kommt Kritik aus der religiösen Ecke?
Weniger als früher. Wir bearbeiten religiösen Themen nicht konstant, sondern wenn sie politische Aktualität haben. Seit der Tragödie von Charlie Hebdo, die uns sehr beschäftigt hat, findet die Auseinandersetzung mit Religion stärker in der politischen Dimension statt.
Übt der Nebelspalter Zurückhaltung in religiösen Dingen?
Es gibt zwei Vorgaben des Verlages: Wir sollen familientauglich sein, wenn es um sexuelle Darstellungen geht, und keine Glaubensinhalte lächerlich machen. Beides ist für die politische Auseinandersetzung nicht notwendig.
Der Nebelspalter wurde 1875 als antiklerikales Kampfblatt auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes gegründet. Im Lauf des 20. Jahrhundert wurde es Commonsense, dass der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken überwunden sei. Seither ist er in der Satire kaum mehr Thema.
Kritik kommt von Gruppen, die ich als neue Religionsersatzbewegungen bezeichnen würde.
Wer beschwert sich heute am häufigsten?
Die Veganer habe ich erwähnt. Kritik kommt von Gruppen, die ich als neue Religionsersatzbewegungen bezeichnen würde. Etwa zum Thema Homöopathie kommen Forderungen nach Gegendarstellungen. In den letzten Monaten haben sich 5G-Gegner beklagt.
Wie sieht es aus beim Thema Gender?
Vor Jahresfrist hatten wir die 63 Gender-Unterscheidungen zum Thema gemacht. Das Echo war lau. Aber Leserinnen und Leser fragen zu Recht: Wo bleiben Eure weiblichen Stimmen?
Unsere Cartoonisten und Texter sind vor allem Männer, ebenso unsere Leserschaft. Wir bemühen uns, das auszugleichen, aber es ist nicht einfach.
Eine parlamentarische Motion will den sogenannten «Blasphemie-Artikel» aus dem Strafgesetzbuch streichen.
Ich glaube, dass man den Artikel auch in der Schweiz abschaffen kann – wie in anderen Ländern. Das Problem ist, dass sich Glaubensinhalte frei definieren lassen. Welche soll man schützen und welche nicht?
Satire will etwas bewirken, etwas aufdecken. Das erreicht man nicht, indem man Glaubensinhalte lächerlich macht.
Glauben Sie, dass religiöse Gefühle grösseren Schutz verdienen als andere Gefühle?
Was ist eigentlich das Ziel der Satire? Sie soll sich nicht über eine Volks- oder Glaubensgruppe lustig machen. Satire will etwas bewirken, etwas aufdecken. Das erreicht man nicht, indem man Glaubensinhalte lächerlich macht.
Das Gespräch führte Christa Miranda.