«Ich spürte als Kind, dass bei uns irgendetwas anders war», sagt Anita. Ihr Bruder ist vier Jahre älter als sie. «Je älter mein Bruder wurde, desto grösser wurden die Herausforderungen für ihn.» Er bricht die Schule ab, kifft und rutscht in eine Heroinsucht.
«Der Fokus der Familie lag auf meinem Bruder», erinnert sich Anita, die ihren richtigen Namen nicht öffentlich sagen will. Sie selber habe sich zurückgenommen. «Ich wollte nicht auch noch Stress machen.»
Immer die Nebenrolle spielen
Dieses Zurücknehmen geht nicht spurlos an ihr vorbei. Sie habe das Gefühl gehabt, als Mensch nicht ganz frei zu sein, erinnert sich Anita. «Da war immer auch noch mein Bruder.»
Mit Ende 20 macht sie eine Therapie. Anfangs geht Anita davon aus, dass die Sache nach zehn Sitzungen gegessen ist. Es dauert viel länger, aber die Therapie zeigt Wirkung. «Irgendwann ging es dann nur noch um mich und nicht um meinen Bruder», sagt Anita heute.
Dass Anita sich und ihre Bedürfnisse oft zurückgestellt hatte, hat Spuren hinterlassen. Die Therapie habe ihr geholfen, ihre negativen Verhaltensmuster aufzubrechen, sagt Anita.
Massive Auswirkungen auf Geschwister
Dass sich Geschwisterkinder zurücknehmen, nicht auch noch zur Last fallen wollen, sei typisch, sagt Barbara Gantner. Die Psychologin arbeitet im Kinderspital Luzern und betreut dort Kinder mit einer Krebserkrankung und deren Familien. «Geschwister von kranken Kindern können das Gefühl haben, dass sie ihre Eltern schonen müssen.»
Die Situation mit einem Kind mit Behinderung oder chronischer Krankheit kann für die Geschwister einschneidende Auswirkungen haben. «Manche Kinder ziehen sich extrem zurück», so Barbara Gantner. Es könne aber auch das Gegenteil passieren: Durch aufmüpfiges Verhalten lenken die Kinder die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich.
Es gebe auch Geschwisterkinder, welche psychisch auffällig werden und selbst Krankheitssymptome entwickeln. Das könnten Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, depressive Symptome oder andere schwere psychische Störungen sein, sagt Gantner. «Das Unterbewusstsein sagt: ‹Wenn du krank bist, müssen sich die Eltern auch um dich kümmern.›»
Eine ähnliche Geschichte wie Anita erlebte Emelie. Auch sie will ihren richtigen Namen nicht veröffentlichen. Sie ist heute 25, ihr Bruder zwei Jahre älter. Als Teenie beginnt Emelie zu rebellieren: Streit mit den Eltern, Schule schwänzen, Alkoholeskapaden. Der ältere Bruder zieht mit.
Als sie in der Oberstufe sind, werden beide in ein Heim gesteckt. Für Emelie ein Weckruf. Sie geht zurück zu den Eltern, zurück zur Schule, studiert später soziale Arbeit. Ihr Bruder fängt sich nicht. Er haut aus dem Heim ab, lebt lange bei Kollegen – und konsumiert Drogen.
Emelie sieht ein, dass sie in dieser Situation jetzt nicht auch noch Probleme machen kann. Sie nimmt sich zurück. «Ich dachte an meine Mutter. Ich wollte unbedingt verhindern, dass ich ihr jetzt auch noch Sorgen mache.»
Kontakt mit Bruder abgebrochen
Als Emelie 15 ist, kommt es zum Bruch mit ihrem Bruder. «Er wurde mir gegenüber gewalttätig», erzählt sie. Sie bricht den Kontakt ab. Während zwei Jahren sehen sie sich nicht.
Ich musste herausfinden, wer ich bin.
Auch Anita bricht den Kontakt zu ihrem Bruder zwischenzeitlich ab. «Ich brauchte Zeit für mich, musste herausfinden, wer ich bin», sagt sie heute.
Die eigene Identität zu hinterfragen, sei bei Schattenkindern nicht überraschend, so Barbara Gantner vom Kinderspital Luzern. Mit der Identitätsentwicklung in der Pubertät komme oft die Frage auf, was die Erkrankung des Bruders oder der Schwester für einen Einfluss auf einen selber hat. «Kann es sein, dass ich mich selber gar nicht kenne, sondern nur die Schwester oder der Bruder von xy bin?»
Anita zieht das mit dem Kontaktabbruch ganze vier Jahre durch. Trotz schlechtem Gewissen und trotz der Familie, die den Entscheid nur schwer akzeptieren kann. «Ich sagte, dass ich nicht mehr mit allen Weihnachten feiern will. Das war sehr schwierig.»
Geschwister gehen oft vergessen
Warum gehen die Geschwister in solchen Fällen oft vergessen? Das passiert nämlich nicht nur in der Familie. Emelie erzählt ein aktuelles Beispiel. Ihr Bruder lebe momentan in einer Institution, wo er versucht, von den Drogen loszukommen. Sie sei zweimal zu einer Standortbestimmung eingeladen worden. «Dabei ging es immer nur um meinen Bruder. Da war nie ich Thema.»
Bei Gesprächen in den Spitälern seien die Geschwister oft nicht dabei. Und wenn, dann fehle meist die Zeit, auch noch auf diese einzugehen, sagt Barbara Gantner vom Kinderspital Luzern.
Im Kinder- und Jugendbereich sei es je länger je mehr so, dass man versuche, die ganze Familie einzubeziehen. «Die Sensibilisierung für dieses Thema wird grösser», so Psychologin Barbara Gantner. Denn in der Forschung seien in den letzten Jahren Geschwisterkinder mehr in den Fokus gerückt worden. «Man merkt immer mehr, dass es wichtig ist, auch diese zu beachten.»
Schattenkinder sind oft stärker
Es sei aber auch so, dass Schattenkinder durch die Situation daheim gestärkt werden. Das bestätige auch die Forschung, sagt Gantner. «Die Kinderkrebsforschung zeigt, dass Geschwister von Kindern mit einer Krebserkrankung oft eine grössere persönliche Reife und mehr soziale Kompetenzen haben als gleichaltrige Kinder.»
Anita und Emelie können dem beipflichten. Sie sagen, das alles habe sie stärker gemacht. Beide sprechen von einer ausgeprägten Eigenständigkeit und Resilienz.
Anita sagt: «Ich wäre nicht die, die ich bin, ohne die Geschichte meines Bruders.»