«Das Problem ist: Mit 18 ist niemand mehr für dich zuständig», sagt Fay. Sie ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Als sie 18-jährig beim Sozialamt eine Auskunft brauchte, wurde sie mit den Worten abgewiesen, ihre Beiständin sei nicht mehr für sie zuständig. Fay war konsterniert und fühlte sich allein gelassen.
So ergeht es fast allen «Careleavers» also Jugendlichen, die das Kinder- und Jugendheim oder ihre Pflegefamilie verlassen. Der staatliche Kinder- und Jugendschutz gilt nur bis zur Volljährigkeit und die Gemeinden müssen die Unterbringung in Pflegefamilien oder in Heimen nicht mehr finanzieren.
Kaum volljährig von Sozialhilfe abhängig
Beim Netzwerk « Careleaver Schweiz » melden sich viele Jugendliche. Mitgründerin und Präsidentin des Vereins Rose Burri sagt: «Wir sehen immer wieder, dass viele nach dem Heim versumpfen und ihren Berufswunsch aufgeben.»
Viele wollen so schnell wie möglich Geld verdienen und von der Sozialhilfe unabhängig sein. Denn alle «Careleavers» sind vom ersten Tag ihrer Volljährigkeit an von der Sozialhilfe abhängig und starten somit ihr Erwachsenenleben mit Schulden beim Staat.
Kaum Chance auf gute Bildung
Nur einer von hundert Betroffenen schafft eine höhere Ausbildung. Das zeigen Untersuchungen der Zürcher Hochschule ZHAW.
Schon die Lehrkräfte und Sozialpädagoginnen stellen an Kinder und Jugendliche in Heimen oder bei Pflegeeltern tiefere Erwartungen als an Gleichaltrige ohne Kinder- und Jugendschutzerfahrung, heisst es im jüngsten Bericht der ZHAW. Diesen Jugendlichen wird keine längere Berufsfindungsphase zugestanden.
Schwierige Lage auch für Pflegeeltern
Wenn Kinder von klein auf in einer Pflegefamilie aufwachsen, fällt es den Pflegeeltern schwer, die Jugendlichen mit 18 vor die Türe zu stellen. «Man stellt die eigenen Kinder ja auch nicht einfach vor die Tür», sagt Karin Roth, Pflegemutter von derzeit fünf Pflegekindern in der Thurgauer Gemeinde Gachnang.
Sie müsse richtig dafür kämpfen, dass die Heimgemeinden der Kinder weiter finanzielle Unterstützung gewähren, doch die Mühen seien meist vergeblich. «Es ist halt nichts geregelt», kritisiert Roth. Tatsächlich gibt es noch in keinem Kanton eine gesetzliche Regelung über die finanzielle Unterstützung von «Careleavers».
Es ist halt nichts geregelt.
Karin Roth war schon mal in einer solchen Situation. Einen jungen Mann, der mit 18 mitten im letzten Lehrjahr stand, behielt sie ohne finanzielle Unterstützung bei sich, bis er auf den eigenen Beinen stand.
«Manchmal habe ich das Gefühlt, die Gemeinden rechnen damit», sagt Karin Roth. «Ich finde es eine Frechheit, wenn sie darauf abzielen.»
Fehlende Statistik
Wie viele Jugendliche in der Schweiz in Pflegefamilien oder Heimen leben, ist nicht bekannt. Es werden keine Zahlen erhoben, weder von Kantonen noch Gemeinden. Die Organisation PACH, Pflege- und Adoptivkinder Schweiz, schätzt, dass etwa 20'000 Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien oder Heimen leben, die meisten davon in Heimen.
Was nicht erfasst wird, erscheint nicht und wird auch nicht wahrgenommen.
Diese Unschärfe ist für den Verein «Careleaver Schweiz» unhaltbar, sagt Rose Burri: «Was nicht erfasst wird, erscheint nicht und wird auch nicht wahrgenommen.»
Um auf die Missstände der «Careleavers» aufmerksam zu machen, lanciert der Verein ab September 21 eine Kampagne mit dem Slogan «Deplaziert».
Politik steht in der Pflicht
Es sei höchste Zeit, dass die missliche Lage der betroffenen Jugendlichen in der Schweiz auch in der Politik ankommt, ist Burri überzeugt. Zusammen mit der Basler SP Nationalrätin Sarah Wyss hat sie zwei Vorstösse ausgearbeitet.
Mehr Infos
Der erste Vorstoss verlangt, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Heimen und Pflegefamilien jährlich statistisch erhoben wird. Der zweite Vorstoss fordert Überbrückungsgelder für diese Jugendlichen. Sodass alle «Careleavers» mit Erreichen der Volljährigkeit so lange finanziell unterstützt werden, bis sie ihren Wunschberuf abgeschlossen haben. Beide Vorstösse werden in der Herbstsession im Nationalrat eingereicht.