Gesünder essen. Mehr Sport. Mehr Zeit für sich selbst. Solche Neujahrsvorsätze wirken auf den ersten Blick unschuldig, doch hinter ihnen verbirgt sich eine gehörige Portion Narzissmus.
Das zumindest behauptet die in Wien lebende Philosophin und Publizistin Isolde Charim. Die wahre Formel des Narzissmus laute nämlich: immer mehr, immer besser! Kurz: Werde dein Ideal!
Unsere Umgangsformen hätten sich in den letzten Jahrzehnten verändert: «Wir beobachten, kontrollieren und bewerten einander immer mehr.» Für die Philosophin bedeutet das den Aufschwung des selbstbezüglichen Narzissmus.
In ihrem Buch «Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung» beschreibt Charim, wie wir alle einem Ideal von uns selbst hinterherrennen: dem «Ich-Ideal». Längst folgen wir keinen Autoritäten mehr, keinem «Über-Ich», sondern einer idealen Version unserer selbst.
Und genau darin sieht Charim – übrigens mit Bezug auf Sigmund Freud – den Narzissmus unserer Zeit. Narzissmus heisse nicht, ein grosses Ego zu haben oder einen Mangel an Empathie. Narzissmus bedeute, sich einem «Ich-Ideal» zu unterwerfen. Kurzum: «Wir sind alle narzisstisch geworden.»
Das unerreichbare Ideal nährt den Narzissmus
Auch die Selbstoptimierung schwindle uns laut Charim etwas vor: «Du kannst eins mit dir werden. Du kannst die optimierte Version deines Selbst werden.»
Dieses Ideal erreichen wir jedoch äusserst selten. In der Regel scheitern wir an ihm und müssen mit dem Gefühl leben, nicht zu genügen. Sprich: Wir leben mit Scham. Ständig werden wir bewertet, in Rankings und Ratings.
Charim nennt sie «narzisstische Skalen». Sie sieht diese auch im Prinzip der Konkurrenz verankert: im permanenten Zwang, besser als der andere sein zu müssen.
Doch insgeheim möchten wir diesem omnipräsenten Wettbewerb entfliehen. Wir suchen, so die Philosophin, unser Heil in einem Jenseits der Konkurrenz, in einer «Einzigartigkeit» und einem «Eigenwert», der sich nicht durch den Vergleich mit anderen bestimmt.
Das sei das «perfide Versprechen der narzisstischen Gesellschaft: Wenn du der erste bist, wenn du die meisten Likes hast, dann kannst du der Konkurrenz entfliehen, dann wirst du einzigartig», sagt Charim.
Der Kapitalismus braucht den Narzissmus
Doch dieses Heilsversprechen sei in Wahrheit nur ein Mythos. Wir alle bleiben austauschbar und gefangen in der Konkurrenz. Aber dank dieser Illusion geben wir nicht auf.
Dank dieser Ideologie funktioniert unsere Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft. Der Narzissmus ist der ideologische Motor des gegenwärtigen Kapitalismus.
Der niederländische Philosoph Spinoza sprach bereits im 17. Jahrhundert mit Blick auf die Religion von einer «Herrschaft über die Herzen» und meinte: «Die Menschen kämpfen für ihre Knechtschaft, als sei es für ihr Heil.»
Genauso kämpfen wir heute für unsere Selbstausbeutung – im Glauben, es sei für unser Heil. Der Narzissmus, so Charim, sei die unsichtbare Ideologie unserer Zeit, der Grund, warum wir uns heute «freiwillig unterwerfen» und die Qualen der Leistungsgesellschaft erdulden.
Moral und Selbstüberschätzung
Dieser Narzissmus zeige sich in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft, auch in der Moral, meint Charim. Moralisches Verhalten und politisches Engagement sei heute immer auch ein «Identitätsgewinn». Wir definieren uns also zunehmend über unsere Moral.
Zudem finde eine «Privatisierung des Weltgeschehens» statt, etwa wenn wir glauben, der eigene Beitrag würde wirklich einen Unterschied machen und es spiele eine Rolle, ob ich persönlich nun die Fussball-WM in Katar schaue oder nicht.
Ähnliches gilt für unser ökologisches Bewusstsein: Charim spricht vom Mülltrennen gegen den Weltuntergang. Die Philosophin sagt überspitzt: «Durch die Mülltrennung werden wir selbst zu den Aufhaltern der Apokalypse.»
Ist Selbstverbesserung immer narzisstisch motiviert?
Die österreichische Philosophin trifft mit ihrer Analyse sicherlich einen Nerv. Ihre Gegenwartsdeutung kann viele Phänomene einfangen, sie bleibt jedoch an einigen Stellen erklärungsbedürftig.
Angefangen mit dem eigenwilligen Narzissmus-Begriff, den sie von Sigmund Freud entlehnt und der die Frage aufwirft: Ist wirklich jeder Wunsch nach Selbstverbesserung narzisstisch? Und: Geht es der Klimaaktivistin wirklich um die eigene Identität und nicht vielmehr um Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen?
Auch der letzte Satz des Buches lässt einen etwas ratlos zurück. Er lautet lakonisch: «Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse.» Auswege scheint es also nicht zu geben. Bleibt nur die Umkehr. Wie diese aussehen könnte, lässt die Autorin allerdings offen.