Erzählcafés sind keine Plauderstunden oder Stammtischrunden. Zwar wird auch dort viel geredet, behauptet und argumentiert – aber oft wenig zugehört. Und: Am Stammtisch treffen sich meist Gleichgesinnte.
Beim Erzählcafé ist das anders: Hier sind ganz unterschiedliche Menschen eingeladen, einander zu einem vorgegebenen Thema aus dem eigenen Leben zu erzählen – Themen wie Heimat, das erste Sackgeld, Missgeschicke. «Dabei gilt: Zuhören ist Pflicht, erzählen ist freiwillig», erklärt Johanna Kohn.
Austausch zwischen Ost und West
Die Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit in Olten hat 2015 das Netzwerk Erzählcafé mitinitiiert. Für sie ist das Erzählcafé eine Methode, über das eigene Leben nachzudenken.
Eingesetzt wird sie seit 1987 in der Biografiearbeit. Nach dem Fall der Berliner Mauer kamen die Erzählcafés dann richtig in Fahrt, da sich die Menschen aus West und Ost viel zu erzählen hatten: Ein Austausch tat Not.
Zuhören ist Gold
Kohn ist überzeugt, dass die Kultur des Erzählens und Zuhörens Gold wert ist. Wenn Menschen zum Beispiel über das erste selbst verdiente Geld reden, kristallisieren sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus, individuelle Erfahrungen lassen sich besser einordnen und neu bewerten.
Erzählen und Austausche auf Augenhöhe entstehen nicht einfach so. Die Erzählcafés werden im ersten Teil moderiert, der zweite Teil ist eine Art Nachbearbeitung, bei der Empfindungen, Erkenntnisse, neue Gedanken bei einer Tasse Kaffee weiterklingen können.
Vom Erzählcafé zum Quartierrundgang
Johanna Kohn erinnert sich an die Erzählcafés, die im Basler Stadtteil Gundeldingen zwischen 2016 und 2019 durchgeführt wurden. In diesem mitunter belasteten Quartier, leben Menschen aus unterschiedlichen Milieus und Nationen.
Als darüber geredet wurde, wo man gratis oder für sehr wenig Geld zu Erholung kommt – in einem Park oder einem Garten – entstand das Projekt, sich auf Quartierspaziergängen Orte zu zeigen, an denen Genuss kostenlos zu haben ist. Aus dem Erzählcafé wurde ein Projekt.
Erzählen in schwierigen Zeiten
Kohn beobachtet, dass das Bedürfnis zu erzählen zunimmt, gerade in der herausfordernden Zeit mit Corona. Erzählen sei eine einfache Art, die psychische Gesundheit zu stärken, sagt Kohn.
Darum erstaunt es sie nicht, dass die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz die Wirkung der Erzählcafés untersuchen will. «Es gibt Hypothesen, dass die Erzählcafés der Vereinsamung entgegenwirken, weil man sich als Teil einer Gemeinschaft fühlt. Zudem aktiviert das Erzählen psychische Ressourcen, weil man sich erzählend den eigenen Fähigkeiten bewusstwird», sagt Kohn.