Luzern, 27. Mai 1747. 30 Soldaten und vier Geistliche begleiten einen ausgemergelten Mann auf seinem letzten Gang. An einem Galgen wird ihm ein Seil um den Hals gelegt. Dann ziehen ihn drei Henkersknechte hoch, bis er «bläulich erblasst» und erstickt.
Später wird er mit dem Gesicht nach unten auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Dieser Mann ist Jakob Schmidlin, ehemaliger Verdingbub und Bauer. Sein Vergehen: Häresie, Pietismus und Abfall vom katholischen Glauben.
Eine solche Brutalität ist Mitte des 18. Jahrhunderts in der Schweiz gang und gäbe, wie der Kirchenhistoriker Gregor Emmenegger erklärt: «Während in England an Dampfmaschinen gebastelt und in Frankreich der Boden für die Revolution bereitet wird, werden in Luzern Bauern hingerichtet und unbescholtene Bürger des Landes verwiesen.»
Die damalige Eidgenossenschaft sei rückständig gewesen, so Emmenegger: «Nirgendwo in Europa wurden pro Einwohner mehr Todesstrafen verhängt, nirgendwo mehr Hexen hingerichtet.»
Keine Trennung von Kirche und Staat
Die alte Eidgenossenschaft, die zu jener Zeit nur aus 13 Ständen besteht, ist gespalten. Die reichen Städte Bern, Basel und Zürich sind seit 1520 evangelisch-reformiert. Dagegen bleiben die fünf inneren Orte römisch-katholisch.
Kantonsgrenzen sind Konfessionsgrenzen und Kirche und Staat eins. Als die Berner und Zürcher 1712 die Kontrolle über die Grafschaft Baden übernehmen, ist die Innerschweiz von Reformierten umzingelt.
«Falsche Meinungen»
Zu jener Zeit kommt der Verdingbub Jakob Schmidlin, Sohn einer bettelarmen Kleinbauernfamilie, als bäuerliche Hilfskraft auf den Hof des Wundarztes Augustin Salzmann.
Er hat es gut dort, lernt lesen und schreiben. Eines Nachts wird Salzmann verhaftet. Ihm werden «falsche Meinungen in Religionssachen» zur Last gelegt sowie der Besitz von Bibeln.
Angst vor gebildeten Untertanen
«Es mag aus heutiger Sicht seltsam erscheinen. Aber das Lesen der Bibel, besonders in deutscher Übersetzung, war Laien nur mit ausdrücklicher Erlaubnis gestattet», erklärt Kirchenhistoriker Emmenegger.
Gebildete Untertanen konnte Luzern nicht gebrauchen. «Der Ständestaat von Luzern führte bis zu seiner Auflösung im Revolutionsjahr 1798 nie eine Volksschule ein und ging rigoros gegen Bibelbesitz vor. Die Regierenden hatten Angst, dass die Bauern auf dumme Gedanken kommen.»
Augustin Salzmann wird unter der Auflage freigelassen, dass er und seine Familie und Knechte sich fortan regelmässig zur Messe begeben. 1713 wird er erneut verhaftet und zu «ewiger Gefangenschaft in vier Mauern» verdonnert.
Salzmanns Ziehsohn Jakob Schmidlin ist damals 14 Jahre alt, liest ebenfalls die Bibel und macht sich Gedanken. «Das Neue Testament und ein Leben, das nah an Jesus Christus ist, faszinieren ihn», so Emmenegger.
Bibelstunde in der Bauernstube
Als Fuhrmann für einen Weinhändler kommt Schmidlin ordentlich in der Welt herum. In Basel lernt der katholische Innerschweizer Leute kennen, die sich in Privathäusern treffen, um über Gott und die Welt zu diskutieren, sogenannte Pietisten.
Die anfänglich skeptischen Gläubigen laden den ungebildeten Bauern zu ihren «Stunden» ein. Schmidlin ist begeistert und gründet zu Hause im Entlebuch ebenfalls eine Bibelgruppe.
Inzwischen ist er verheirateter Familienvater und besitzt einen kleinen Hof, die «Sulzig». Da dieser jedoch wenig abwirft, arbeitet er weiterhin als Fuhrmann, knüpft Kontakte in anderen Kantonen und kommt von seinen Reisen mit Bibeln, Gebets- und Gesangsbüchern nach Hause.
«Für das eigene Seelenheil zuständig zu sein, ohne Vermittlung von Priestern, das gefällt ihm», so Emmenegger. «Doch der Obrigkeit, die Wind davon bekommt, gefällt das ganz und gar nicht.»
Jagd auf die «Stündeler»
Am 11. November 1746 greift Luzern durch. Der «Ketzer» und seine Gefolgsleute werden verhaftet, auch die Frauen. Schmidlin wird im selben Kerker wie sein Ziehvater 20 Jahre früher gefoltert, verhört und im katholischen Glauben unterrichtet.
«Das war natürlich absurd, denn Schmidlin hat dem Katholizismus nie abgeschworen oder diesen verurteilt. Er wollte einfach Herr über seinen Glauben sein», erklärt Emmenegger.
Nach monatelanger Untersuchungshaft, Folter und einem erpressten Widerruf seines «ketzerischen Pietistenglaubens» wird Schmidlin schliesslich zum Tod durch Erwürgen mit anschliessendem Verbrennen verurteilt.
Sein Hof wird abgebrannt, seine Mitstreiter unter Androhung der Todesstrafe des Landes verwiesen. Der Bischof von Konstanz gratuliert zur Ausrottung der «verrufenen Sendlinge der Hölle».
Ordnung statt Vielfalt
«Es geht um Politik und um Macht», ordnet Kirchenhistoriker Emmenegger ein. Zwar hätte es damals in den kirchlichen und staatlichen Hierarchien Luzerns auch Befürworter Schmidlins gegeben, Männer, die in seinem Bibelkreis keine Gefahr sahen.
«Durchgesetzt haben sich jedoch jene, die keine Vielfalt, sondern Ruhe und Ordnung wollten. Es ging also letztlich um die Frage, wie viel Dissidenz ein Gemeinwesen verträgt.» Eine Frage, die heute genauso aktuell ist wie damals.