Die meisten kennen Henri Dunant als Gründer des Roten Kreuzes. Was viele nicht wissen: Der Genfer Humanist war in der französischen Kolonie in Algerien auch als Geschäftsmann tätig.
Dort vermittelte er Mitte des 19. Jahrhunderts im Auftrag von Genfer Bankiers Land an Auswanderungswillige und betrieb ausserdem ein Mühlengeschäft. Das alles geschah «im Fahrwasser der höchst gewalttätigen Landnahme durch die französische Armee».
So beschreibt es der Basler Historiker Georg Kreis in seinem neusten Buch über die koloniale Vergangenheit der Schweiz.
Der französischen Kolonialmacht waren die Geschäftsleute, die Siedlerinnen und Siedler und die Schweizer Bankiers, die das alles finanzierten, sehr willkommen. Denn sie halfen, Frankreichs Herrschaft zu sichern und damit auch, den Einheimischen ihr Land streitig zu machen und ihre nomadische Lebensweise zu verunmöglichen.
Hinzu kam die Schweizer Beteiligung in der Fremdenlegion. Der Thurgauer Oberst Christoph Anton Stoffel wurde 1831 erster Kommandant und kommandierte die fünf in Algerien eingesetzten Bataillone.
Algerien war kein Einzelfall
Algerien ist nur ein Beispiel unter vielen. Es zeigt aber besonders gut, wie vielfältig die Beteiligung von Schweizerinnen und Schweizern am Kolonialismus war. Auch im Sklavenhandel mischten Schweizer mit. Manche besassen Plantagen, auf denen Sklaven arbeiteten – so etwa der Vater des Wirtschaftspioniers Alfred Escher.
Mit Geld aus dem Sklavenhandel wurde später im 19. Jahrhundert zum Teil der Rohstoffhandel finanziert, in dem Schweizer Firmen kräftig mitmischten, auch wenn die Schweiz keine eigenen Kolonien besass. Die Grundlage für den Rohstoffhandelsstandort Schweiz.
Auch Schweizer Missionarinnen und Missionare nutzten ihre Präsenz in den Kolonien, um Handel zu betreiben. So entstand etwa parallel zur Basler Mission die Basler Missionshandelsgesellschaft.
Immer wieder wegschauen
Die Verbindungen von Kaufleuten, die ihre Geschäfte in Übersee und in den Kolonien betrieben, zur Politik war eng. Die Rahmenbedingungen für den Handel vorteilhaft. Und doch hielt sich der Bundesrat – und vor ihm die Tagsatzung – auffällig zurück, wenn es etwa um Landerwerb in den Kolonien ging.
So auch anfangs des 19. Jahrhunderts, als während einer Hungerkrise darüber diskutiert wurde, ob in Nordamerika Land gekauft werden sollte für einen 23. Kanton, um Armut und Überbevölkerung in der Schweiz zu bekämpfen.
«Die Schweiz hatte zur Zeit des Kolonialismus einen schwachen Staat», erklärt Historiker Georg Kreis diese Zurückhaltung. Koloniale Geschäfte und Auswanderung galten als Privatsache.
Schluss mit Schweigen
Was heisst das für die Gegenwart? Auffällig ist, wie spät die Schweiz mit der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit begann. So galt der Baselbieter Johann August Sutter lange als Vorzeigepionier, bis 2019 eine neue Forschungsarbeit zeigte: Sutter hat mit indigenen Kindern gehandelt und Minderjährige sexuell missbraucht.
«Weil die Schweiz keine eigenen Kolonien hatte, war die Dringlichkeit zur Aufarbeitung weniger stark», erklärt Georg Kreis die späte Aufarbeitung. Das hängt auch damit zusammen, dass weniger Menschen aus ehemaligen Kolonien in der Schweiz leben und die Diskussion antreiben. Das hat sich in den letzten Jahren geändert.
Die Black Lives Matter-Bewegung hat auch in der Schweiz zur Diskussion über Statuen und den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit geführt. Und welche Verantwortung ergibt sich aus dieser kolonialen Vergangenheit?
«Das Bewusstsein muss gestärkt werden», sagt der liberale Historiker Georg Kreis. «Die Schweiz sollte sich in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren und für eine gerechtere Weltmarktordnung einsetzen.»