«Eine Flagge bietet immer gleich Gesprächsstoff», sagt der Pächter von Grundstück Nummer 5 im Familiengarten Bruderholz in Binningen. Christian Suter, Chemiker im Ruhestand, sitzt an seinem Gartentisch und schenkt Mineralwasser nach.
PET-Flaschen-Romantik und Plastikbecher bei Premiumsicht auf Basel. Nur den Roche-Turm, das weisse Wahrzeichen der Pharmastadt, kann Christian Suter nicht sehen, wenn er sich eine verdiente Verschnaufpause gönnt. Zwei Bäume verstellen den Blick.
Ausgerechnet auf die Roche: Für das Schweizer Chemieunternehmen von Weltrang war Suter lange Jahre als Forscher und Forschungsleiter tätig. Auch drüben in Amerika.
Ebbe im vermuteten Schweizer Fahnenmeer
Der Mann hat ein Händchen für Rosen. Die nobel blässliche «Pierre de Ronsard» umrankt den Torbogen, durch den man Christian Suters Reich betritt. Seit zehn Jahren zieht er hier Gemüse, rote Beeren und die weissen Pfirsiche, um die sie ihn im Garten alle beneiden.
Neben dem Eingang blüht glutrot die Rose, die nach Henri Dunant benannt ist, dem Gründer des Schweizerischen Roten Kreuzes. Kaum Wind an diesem frühen und kühlen Julimorgen: Suters Schweizerfahne hängt schlaff an der Aluminiumstange.
Überhaupt: Es herrscht eher Ebbe im vermuteten Fahnenmeer. Der Davidstern. Japans Feuerball. Eine vierteilige farbige Fantasiefahne.
Ist ein Schrebergarten, die lange als bieder belächelte, aber wieder in Mode gekommene Zone an den Rändern der Stadt, nicht traditionell der Ort, an dem man Farbe bekennt? Und sei es nur, weil alle anderen es auch tun?
Sie habe eine Schweizerfahne nicht nötig, sagt Christian Suters Gartennachbarin von schräg gegenüber. Die Frau mit Sonnenhut ärgert sich ungefragt über die vielen und faulen Zugewanderten, die in Basel unten den Bahnhof verstopften. «Ich trage die Schweizer Fahne in mir.»
Er wüsste ja schon gar nicht, ob er die schweizerische oder die italienische Flagge hissen solle, lächelt der Italiener mit dem angeblich grünsten Daumen im ganzen Garten in perfekt gebrochenem Schweizerdeutsch. «Ich bin seit 15 Jahren Doppelbürger.»
Überraschung!
Suters Schweizerfahne war ein Geschenk des Grundstücknachbarn, der ihm schon hinterrücks den Fahnenmast neben dem Holzhäuschen eingepflanzt hatte. Seine alte Fahne war völlig aus der Form geraten – zerschlissen und zerfleddert vom Wind.
«Das wird schon langsam die Schweizer Europafahne», beliebte Suter zu scherzen, als die Schweizerfahne zusehends rechteckiger wurde. Nicht alle fanden es lustig.
Christian Suter, der mit einer Amerikanerin verheiratet ist und sich als Kosmopolit verstanden haben will, ist alles andere als ein Fahnen-Fan, der die Liebe zu seinem Heimatland in Form eines Stück Stoffs zur Schau stellen müsste. Aber wo er nun diesen Mast einmal hatte, konnte er ja Flagge zeigen. Bloss: Welche?
«Er zeigt es nicht so gern»
Christian Suter mag die Schweizerfahne. Die Farben und die im internationalen Vergleich ungewöhnliche Form des Quadrats. «Der Schweizer ist gerne Schweizer, auch wenn er zu verschiedenen Sprachregionen gehört», sagt er. «Aber er zeigt es vielleicht nicht so gern.»
In Amerika hat Suter seinen Forscherfreunden die Entstehung der Schweiz spasseshalber so erklärt: Es war einmal ein Haufen Deutschschweizer, die keine Deutschen sein wollten. Da waren die Westschweizer, die mit den Franzosen nicht wollten. Und es gab die Tessiner, die nicht mit den Italienern konnten.
Die Schweiz nach Suter: Das ist ein Gemeinschaftsgefühl von Gleichgesinnten, geboren aus dem Geiste eines Nicht-Dazugehörens.
«Direkt nach Schoggi»
«Der Schweizer Patriotismus entstand stärker durch das gemeinsame Feindbild als durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl», sagt auch die Kabarettistin Patti Basler. «Deshalb funktionieren Werbespots, in denen Einheimische sich weigern, dem Deutschen das Geheimnis von Schweizer Käse zu verraten.»
Als Kind habe es für sie nichts Grösseres gegeben als eine Schweizerfahne zu hissen, sagt Patti Basler. Sie hat es als Hochgefühl abgespeichert, das «direkt nach Schoggi» kam. Und doch tun viele Schweizerinnen und Schweizer sich schwer damit, Flagge zu zeigen. Es sei denn, es sei Nationalfeiertag. Es sei denn, es sei Fussballweltmeisterschaft.
Es sei denn, Schweizer Reisende führen oder flögen nach Israel oder nach England, schiebt Patti Basler nach. Dann nähen sich auch haufenweise helvetische Backpacker das weisse Kreuz auf rotem Grund auf den Rucksack, «damit man sie nicht für Deutsche hält». So wie die Kanadier, die ihr Ahornblatt gut sichtbar mit sich tragen. Man könnte sie sonst mit Amerikanern verwechseln.
Die Stärke der Reduktion
Das Hochdeutsch des Kanadiers Tyler Brûlé ist auch nach 20 Jahren Homebase in Zürich nach eigenem Bekunden «nicht sehr schön». Der Medienunternehmer und Brandingspezialist sitzt im Zürcher Seefeld vor dem Schweizer Ableger des Cafés. Es gehört zu seinem global getakteten Lifestyle-Kultur-Design-Magazin «Monocle», dessen Chefredakteur er ist.
Tyler Brûlé: Das ist der, der die Oberfläche der Swissair nach dem Grounding zur Swiss umrüstete. «Verrückt ist», sagt er lächelnd, «dass ich noch heute beim Einkaufen im Coop darauf angesprochen werde.» Erst kürzlich hat er die Air Canada neu gestaltet. In Kanada will es kaum einer mitgeschnitten haben.
Tiefe Stimme, hoher Sprech-Speed: Bei einem orangen Drink, der perfekt mit dem Kakigrün seiner Shorts matcht, sagt Tyler Brûlé über die Schweizer Fahne, die er grafisch nicht eigentlich schön findet, sie sei «powerful». Weil radikal in ihrer Reduktion. Weil ausdrucksstark aus Referenzgründen. Henri Dunants rotes Kreuz korrespondiert mit ihr.
Das Reden der Anderen
Tyler Brûlé, der selbsternannte globale Nomade, feiert die Schweiz seit den späten 1990er-Jahren, als er in seinem «Wallpaper Magazine» begann, ihre Vorzüge anzupreisen. Und das zu einer Zeit, als das Land auf den Lifestyle-Landkarte der Welt schlicht nicht vorkam.
Die Schweiz für Brûlé: Das sind die Schweizerischen Bundesbahnen. Das Umweltbewusstsein. Qualitätsprodukte wie die Winterschuhe von Kandahar. Unaufgeregtheit. Entschleunigung. Die Schweiz war plötzlich auch für tendenziell progressive Heimatmuffel nicht mehr nur der ewig langweilige Musterschüler, zu dem man für seine Leistungen aufschaut, den aber keiner cool findet.
Wie sieht Brûlé, was der Schrebergarten-Chemiker gemeint hatte, als er betont vorsichtig formulierte: «Typisch ist, dass ich nicht genau sagen kann, was das Schweizerische sei.» Allenfalls so: «Das Schweizerische bemisst sich daran, was die anderen über uns sagen.»
Anders gefragt: Ist der Schweizer Patriotismus eine verklemmt-verknorzte Mischung aus Scham und Stolz? Schrecklicher Verdacht: Sind wir heimlich eben doch stolz darauf, Schweizer zu sein, wollen es der Welt bloss nicht zeigen? Brauchen wir einen Fremden wie ihn, der uns auf die schmalen Schultern klopft und ermutigt, auch mal Flagge zeigen zu dürfen?
Faszination Federer
Denkpause. Dieses Understatement zeichne auch andere Länder aus, sagt Tyler Brûlé dann, nicht nur kleine. Er erklärt es sich an diesem Samstagabend vor dem Wimbledon-Finale für die Schweiz damit, dass das Land zu wenig dieser Roger-Federer-Momente habe.
Will heissen: Schweizerinnen und Schweizer können sich zu selten als Nation gemeinsam vor dem Fernseher versammeln, um sich einer Grösse zu versichern, die Ausstrahlung habe in die ganze Welt.
Das Schüchterne der Schweiz: Tyler Brûlé macht es letztlich an der fehlenden Popkultur-Industrie fest. Ein Luca Hänni mag als Viertplatzierter am letzten Eurovision Song Contest auch ein paar Sympathiepunkte für die Schweiz gesammelt haben. Aber, fragt Tyler Brûlé sehr sinngemäss und sehr laut, damit der Kulturminister in Bern ihn hören kann: «Ist dieser Luca Hänni das Ende der Fahnenstange?»
Die Macht des Gesprächs
Für Tyler Brûlé liegt allerdings gerade in dieser Abwesenheit von Popkultur die Anziehungskraft, auf die der SBB-Fan abfährt. Oder um es in einem dieser bunten Brûlé-Sprachbilder zu sagen: Stört sich ein Schweizer daran, dass in Nachbars Schrebergarten störend laut Musik läuft, geht er meist hin und sagt es ihm. In Amerika oder England werde es immer direkt laut .
In seiner Heimat Kanada, der noch jungen Einwanderernation, sagt Tyler Brûlé, bleibe man immer erst dem Land zugehörig, aus dem man herkomme und sei erst dann auch Kanadier. In den USA sei umgekehrt der Druck enorm gross, Amerikaner zu sein und seine Herkunft abzustreifen.
In der Schweiz indes könne man bequem beides sein – Schweizer Bürger und Ausländer. Für Brule hat dieses schweizerische Streben nach Mitte und Ausgleich, nach Verbindung und Sicherheit den Preis, dass dem Land das Extreme und Exaltierte abgehe, das wesentlich zum Wesen der Popkultur gehöre und – alle hundert Jahre eben nur – auch einen Weltsportstar wie Roger Federer hervorbringe.
Der eigentliche Reichtum der Schweiz liegt für Tyler Brûlé nicht auf den Bankkonten. Unbezahlbar sei das soziale Kapital des Landes. Unbezahlbar sei das Vermögen, zwischen dem Eigenen und Anderen, dem Fremden zu vermitteln, ohne dass deswegen Blut fliesse.
Im Widerspiel mit der Welt
In der Schweiz, sagt der Schweizer Autor Peter von Matt, habe man die intensivste Heimaterfahrung gegenüber dem ganzen Land seit vielen Generationen im Zweiten Weltkrieg gemacht, als die Bedrohung durch die deutsche Armee unmittelbar akut war.
Als die politische Bedrohung jedoch vorbei war, sei diese Heimaterfahrung zum politischen Problem geworden. «Man wollte wieder zur weiten Welt gehören, und es gab innenpolitische Konflikte zwischen der alten und der neuen, abgekühlten, weltoffenen Heimaterfahrung.»
Die Kraft des «Kantönligeists»
Für das Verständnis des Schweizer Patriotismus sei entscheidend, dass der Prozess der Heimaterfahrung nicht nur zwischen der Schweiz und anderen Nationen spiele, sondern auch zwischen den Kantonen. «Die stärkste Heimat- und Zugehörigkeitserfahrung wird in der Schweiz gegenüber dem Kanton gemacht, zu dem man gehört», sagt Peter von Matt.
Das gehe vermutlich auf die Zeit vor 1848 zurück, als die Schweizer Kantone noch selbständige Staaten waren. Aus dieser Zeit rühre denn auch ein grosser Teil der Animositäten und Abneigungen, der Spott-Sport zwischen den benachbarten Kantonen.
Zukunftsmusik
Der Kantönligeist. Vielleicht sind deshalb im Schrebergarten Bruderholz bei Basel fast mehr Kantonsflaggen zu sehen als Schweizerfahnen. Die allererste Flagge, die er im Schrebergarten gehisst habe, sei die des Kantons Solothurn gewesen, reicht Christian Suter nach.
Er habe da zwar nie gelebt, er sei aber Bürger von Schnottwil. Und wenn die neue Schweizerfahne wieder so aus der Form sei wie ihre Vorhängerin, werde auf Parzelle Nummer 5 mit fast freier Sicht auf Basel wieder eine Solothurner Flagge wehen.
Sendung: SRF 2 Kultur Spezial, 01.08.2019, 12:00 Uhr.