Es gibt Gesetze, die Familien auseinanderreissen. Das sogenannte «Saisonnierstatut» war eines davon. Besonders zum Tragen kam es in der Nachkriegszeit, in den 1950er- bis 1980er-Jahren.
Die Schweiz lies damals dringend benötigte Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen. Zugleich wollte die Politik verhindern, dass sich die Menschen längerfristig niederlassen und eine Heimat finden. Der Familiennachzug wurde verboten oder erheblich erschwert.
«Dieses Gesetz hat uns Kinder illegalisiert», sagt Schriftstellerin und Musikerin Melinda Nadj Abonji. Dennoch habe sie lange gebraucht, um zu realisieren, dass es moralisch falsch gewesen sei.
Ein Gesetz wie eine Wand
Nadj Abonji ist Vorstandsmitglied des anfangs Oktober gegründeten Vereins «Tesoro». Er vertritt die Interessen der Familienmitglieder, die vom Schweizer Saisonnierstatut und Jahresaufenthalterstatut betroffen waren.
Erst, als ihre Eltern schon in die Schweiz gezogen waren, hätten sie realisiert, dass sie ihre Kinder nicht nachholen dürfen, erzählt die Autorin. «Plötzlich stand dieses Gesetz zwischen uns wie eine unüberwindbare Wand.»
Schliesslich waren sie und ihr Bruder während vier Jahren von den Eltern getrennt. Die strukturelle Gewalt, die in diesem Gesetz steckte, sei bis heute für viele Familien kaum bewältigbar, so Nadj Abonji.
«Unsere Eltern waren praktisch rechtlos»
Auch Egidio Stigliano war von dem Gesetz betroffen. Heute arbeitet er als Neuropädagoge in St. Gallen. Als Kind musste er sich im Wald oder in der elterlichen Wohnung verstecken. Seine Eltern waren Saisonniers. Ein Familienleben war ihnen verboten.
Das Gesetz sei ein unmenschliches Attentat auf die Familien gewesen, sagt Stigliano: «Unsere Eltern haben dieses Land aufgebaut, aber sie waren praktisch rechtlos.» Auch der Neuropädagoge engagiert sich bei Tesoro.
Paola De Martin, die Präsidentin des Vereins, kam zwar in der Schweiz zur Welt. Da der Vater Saisonnier war, hatte er jedoch kein Anrecht auf Familiennachzug. Die Geburt galt deshalb als «illegaler Familiennachzug». Die Eltern mussten sich vom Säugling trennen.
«Meine Mutter hat versucht, mich hier in einer Krippe unterzubringen, aber niemand wollte mich aufnehmen», erklärt De Martin. Deshalb sei sie gezwungen gewesen, ihre Tochter im Alter von drei Monaten bei einem Onkel in Italien zurückzulassen. «Für eine Mutter ist das traumatisch.»
Eine unerträgliche Wahl
Wie ein Messer sei das Gesetz durch Familien gegangen, so die Vereinspräsidentin. Es stellte die Eltern vor eine unerträgliche Wahl: Entweder die eigenen Kinder in der alten Heimat zurücklassen oder sie heimlich über die Grenze in die Schweiz bringen und verstecken.
Beides sei mit tiefen Schuld- und Schamgefühlen verbunden gewesen. «Deswegen fällt das Reden über jene Zeit auch so schwer. Die Verletzungen gehen tief.»
Der Verein «Tesoro» versucht eine Sprache für das Erlebte zu finden. Gleichzeitig will er das politische Schweigen der Schweiz brechen. Die Schweiz solle das entstandene Leid offiziell anerkennen, sich entschuldigen und Betroffene gegebenenfalls auch finanziell entschädigen, fordert der Verein.
Der politische Prozess steht allerdings noch ganz am Anfang. Das zeigt sich auch aufseiten der Behörden. Dort sind die Forderungen von «Tesoro» noch kein Thema, da es noch keine politischen Vorstösse dazu gibt.