Das Wichtigste in Kürze
- Das Buch «Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010» zeigt, wie sehr sich der Typus der Schweizer Wirtschaftsführer verändert hat.
- Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts galt: Schweizer Unternehmen wurden von einer Handvoll Schweizer Führungskräfte geleitet, ausgebildet an Schweizer Kaderschmieden und in der Heimat fest verankert und vernetzt.
- Für den neuen Typus gilt vieles nicht mehr: Sie sind zumeist keine Schweizer, wurden an ausländischen Universitäten ausgebildet und haben weniger die Schweiz als vielmehr die globale Situation im Blick.
Die alte Schule
Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint der Winterthurer Jurist und Industrielle Hans Sulzer typisch für die Schweizer Wirtschaftselite. Sulzer lebte von 1876 bis 1959 und besetzte «zahlreiche Machtpositionen in den grössten Schweizer Unternehmen», wie vier Lausanner Sozialwissenschaftler in ihrem Buch «Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010» schreiben.
«Er präsidierte neben dem Verwaltungsrat der von seinem Urgrossvater gegründeten Firma Sulzer auch die Aufsichtsgremien der Winterthur Versicherungen und der Saurer AG.» Sulzer war auch Vizepräsident der Maag AG und sass in den Verwaltungsräten von mehreren weiteren Schweizer Unternehmen. Zudem präsidierte er den Wirtschaftsverband Vorort und sass im Bankrat der Nationalbank.
So habe sich die Macht bei «einer Handvoll Individuen» konzentriert, stellen die Autorin und die Autoren fest. Über Jahrzehnte waren die juristischen Fakultäten der Schweizer Universitäten und die Ingenieurs-Ausbildungen der ETH die Kaderschmieden. Dort lernte man, dort vernetzte man sich. Man war ein Mann und Offizier der Schweizer Armee.
Dann beginnt der Umbruch
«Seit den 1990er-Jahren hat sich das Profil der Schweizer Wirtschaftsführer internationalisiert», schreiben die Autoren dieser Untersuchung. Nun wurde die Globalisierung stärker wirksam – und die Prinzipien des Shareholder Value setzten sich durch: Investoren verlangten, dass Unternehmen ihre Gewinne nicht mehr investierten, sondern den Aktionären auszahlten.
Grosse Firmenanteile waren in den Besitz von Finanzgesellschaften übergegangen. Der Finanzkapitalismus löste den Familienkapitalismus ab, die Finanzwirtschaft die Realwirtschaft. Eine neue Managergeneration übernahm. Zum Beispiel der US-Amerikaner Brady Dougan, der von 2007 bis 2015 die Credit Suisse leitete.
«Der Sohn eines Bahnangestellten aus Illinois studierte nicht an einer Schweizer Universität, sitzt bei keiner anderen grossen Schweizer Firma im Verwaltungsrat und hat keinen Bezug zur Schweizer Armee.»
Dougan hat andere Qualifikationen, heisst es im Buch: «Dafür besitzt er den Titel eines MBA der Booth School of Business der Universität von Chicago und pflegt ein Netzwerk, das er in seiner langen, von den Vereinigten Staaten über Europa bis Asien reichenden Karriere geknüpft hat.»
Die neuen Manager
Die Biografien der neuen Wirtschaftseliten unterscheiden sich also deutlich von denen der im Inland gut vernetzten Manager früherer Zeiten. Die heutigen Schweizer CEOs sind sie nicht mehr unbedingt Schweizer. Sie studieren an der Hochschule St. Gallen oder an ausländischen Universitäten Volks- und Betriebswirtschaft und haben oft einen MBA-Lehrgang hinter sich.
In schweizerischen Wirtschaftsverbänden engagieren sie sich kaum mehr. Und dass Verwaltungsräte der 110 wichtigsten Schweizer Unternehmen den eidgenössischen Räten angehören, kommt – anders als früher – kaum mehr vor. Der Blick der Wirtschaftselite richtet sich auf die Welt. Die inländischen Realitäten haben für sie an Bedeutung verloren. Hier sind die neuen Manager nur noch schwach verwurzelt.
Und die Frauen?
Über Jahrzehnte waren Erbinnen von Familienunternehmen oder Unternehmer-Ehefrauen nahezu die einzigen Frauen in den Verwaltungsräten wichtiger Firmen.
Nach der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 verstärkte sich die weibliche Präsenz in der Wirtschaft leicht. Aber: «Besonders das Wirtschaftsestablishment war – und bleibt bis heute – eine Männerbastion».
Der Frauenanteil in den Verwaltungsräten der 110 grössten Schweizer Unternehmen stieg von 2,2 Prozent im Jahr 1980 auf 8,9 Prozent im Jahr 2010, wobei Frauen auf Generaldirektorenposten «nach wie vor so gut wie vollständig» fehlen.
Wirtschaftselite wird greifbar
«Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010» ist eine gründliche sozialwissenschaftliche Untersuchung, gut geschrieben und aufschlussreich.
Weil die Autorin und die Autoren 20'000 biografische Datensätze ausgewertet haben und so die charakteristischen Merkmale der Wirtschaftselite während eines Jahrhunderts herausarbeiten konnten. Die Entwicklungen stellen sie auch anhand exemplarischer Kurzlebensläufe dar.
Das Buch zeigt auf, wie sich dieser kleine Teil der Gesellschaft verändert hat: weg von der einstigen starken Vernetzung im Inland, hin zu einer globaleren Ausrichtung mit geringer Bindung an Gesellschaft, Politik und Wirtschaft dieses Landes. Die Wirtschaftselite wird greifbar, plastisch. Das liest man mit Gewinn.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 3.11.2017, 17.00 Uhr