Es war eine Begegnung mit Folgen: Tabea Oppliger war mit ihrer sechs Wochen alten Tochter im Zürcher Rotlichtmilieu unterwegs, es regnete heftig, und plötzlich näherte sich ihr eine Frau. «Es war klar zu erkennen, dass sie eine Prostituierte war», erzählt sie. Die Unbekannte fragte in gebrochenem Deutsch: «Darf ich Tochter küssen?»
Tabea Oppliger bejahte. «Dieser Kuss mit dem Lippenstift auf das Köpfchen meines Babys hat zugleich mein Herz gebrandmarkt.»
Daraufhin hat die Frau erzählt, wie sie mit falschen Versprechungen aus Südamerika in die Schweiz gelockt und zur Prostitution gezwungen wurde. «Wenn man von etwas hört, schaut man entweder weg und geht weiter oder man wird aktiv», sagt Tabea Oppliger.
Sie wurde aktiv. Die heute 45-Jährige, die eine Weiterbildung als Sportmasseurin absolviert hatte, bot den Sexarbeiterinnen an, sie zu massieren. Sie hat gesehen, wie körperlich und psychisch belastend die Arbeit der Frauen war.
Arbeit statt Mitleid
Bei ihren Begegnungen hörte Oppliger immer wieder denselben Satz: «Ich brauche kein Mitleid, ich brauche einen Job.» Denn erfolgreich aus der Zwangsprostitution aussteigen könne nur, wer mit einer anderen Tätigkeit eine Perspektive habe. Für Tabea Oppliger war deshalb klar: Sie wollte die Lücke zwischen Ausstieg und Reintegration in den Arbeitsmarkt schliessen.
Das war vor gut zehn Jahren. Heute führt die Schweizerin zusammen mit ihrem Mann Matthias ihr Sozialunternehmen «KitePride» in Israel, das zugleich ein Upcycling-Projekt ist.
Materiallager mit Aussicht
Die Produktionsstätte befindet sich in einem Industriegebäude im Süden Tel Avivs, einer eher ärmeren Gegend, in der viele Migrantinnen und Migranten leben. Auf zwei Stockwerken nähen Mitarbeitende Taschen, Rucksäcke und Accessoires aus alten Segeln und Fallschirmen.
Es gibt so viele ehemalige Opfer von Menschenhandel, die eine Arbeitsstelle brauchen.
Zum Unternehmen gehört auch das Dach des Gebäudes, von wo aus man über ganz Tel Aviv blickt. Hier ist das Materiallager von KitePride. «Und auf dem Dach haben wir eine grosse Arbeitsfläche», sagt Oppliger.
Die Unternehmerin ist braungebrannt und sportlich. Man sieht ihr an, dass sie leidenschaftlich surft. Dass sie gerne zupackt, wird klar, als sie ein Segel aus einem Regal hervorzieht und auf dem Boden der grossen Terrasse ausbreitet.
Jede Etikette sagt «Danke»
In den beiden Stockwerken darunter nähen Mitarbeiterinnen an Industrienähmaschinen Labels an die Taschen. «Danke» steht darauf. «Sie haben soeben der Person einen sicheren Rehabilitations-Arbeitsplatz verschafft, die diese Tasche genäht hat – alles Überlebende von Menschenhandel und Prostitution.»
Entweder rette ich mich oder ich bringe mich um.
Bei KitePride arbeiten Menschen, die den Ausstieg aus der Zwangsprostitution bereits geschafft haben: Sie kommen über Organisationen, die Schutzhäuser betreiben, oder über Tagesklinikbetriebe, die Beschäftigungsprogramme haben, zu Tabea Oppliger.
Oft sind sie bereits in Therapie und bereit für den nächsten Schritt: die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. «Momentan arbeiten 13 Leute mit diesem Hintergrund bei uns in der Produktion in der Fabrik», sagt Tabea Oppliger.
Hohe Erfolgsquote
Die meisten Mitarbeitenden kommen aus Osteuropa, mehrheitlich aus der Ukraine und aus Russland. Einige stammen aus Israel. Angestellt sind vor allem Frauen, dazu etwa 30 Prozent Transgender und 10 Prozent Männer.
2018 hat Tabea Oppliger KitePride mit ihrem Mann gegründet. «Seither sind etwas mehr als 35 Leute bei uns ausgebildet worden zu Näherinnen, zu Produktionsmitarbeiterinnen, zu Designern – im kleinen Bereich natürlich.»
Ganz zu Beginn seien zwei oder drei Menschen wieder in die Prostitution zurückgekehrt. «Aber sonst sind alle geblieben», sagt Oppliger. «Wir haben eigentlich hundertprozentigen Erfolg.»
Spenden sind nötig
Tabea Oppliger realisierte bald, dass das Angebot von KitePride nicht ausreicht. «Es gibt so viele ehemalige Opfer von Menschenhandel, die eine Arbeitsstelle brauchen», sagt sie. «Es ist eine Riesennot.» Und weil die Angestellten bei KitePride von Anfang an ein Gehalt erhalten, um finanziell möglichst rasch auf eigenen Beinen zu stehen, sei ihre Kapazität begrenzt.
«Die Einnahmen bei KiteProde decken gerade mal die Produktionskosten», sagt Oppliger. Das Unternehmen ist zu einem grossen Teil auf Spendengelder von jüdischen und mehrheitlich kirchlichen Stiftungen angewiesen.
Um noch mehr ehemaligen Opfern von Zwangsprostitution zu helfen, hat Oppliger ein Sozialprojekt lanciert. In Kursen lernen die Teilnehmenden Alltägliches: wie Rechnungen zu bezahlen, wie man sich bewirbt, wie das Sozial- und Gesundheitssystem funktioniert, aber auch welche Rechte sie haben. Das Ziel ist, dass sie im Leben wieder Fuss fassen. Für dieses Projekt erhält Tabea Oppliger unter anderem Geld von der israelischen Regierung.
Rettung, bevor es zu spät ist
Tommy ist eine der Frauen, die bei diesem zweiten Projekt mitgemacht hat. Die 29-jährige Israelin arbeitet heute als Köchin, unter anderem für den Mittagstisch von KitePride. Sie ist bereit, ihre Geschichte zu erzählen, im Gegensatz zu den Angestellten, die lieber in der Anonymität bleiben wollen.
«Ich habe mehrmals versucht, auszusteigen», erzählt Tommy. Letztlich sei es immer an finanziellen Problemen gescheitert. «Bis ich vor vier Jahren zum Schluss kam: Entweder rette ich mich oder ich bringe mich um.»
Sie habe nie das Gefühl gehabt, dass jemand sie auffangen werde, wenn sie diesen Schritt wagen würde. Erst mit den Menschen bei Tabea Oppliger sei sie dazu bereit gewesen. «Und als es passiert ist, war ich nicht allein.»
Mit 14 Jahren das erste Mal verkauft
Ihre Mutter hat die Familie verlassen, als Tommy zwei Jahre alt war. Als ihr Vater starb, kam sie elfjährig in ein Internat. Mit 14 Jahren ist sie ausgebüxt. «Da wurde ich das erste Mal verkauft», sagt sie. Etwas habe sich dabei in ihrem Kopf verändert: Ihre Selbstwahrnehmung sei danach eine andere gewesen.
Mit 17 Jahren hatte sie keine andere Wahl, als sich zu prostituieren. Ein paar Jahre habe sie in Stripclubs gearbeitet sowie in der BDSM-Szene und als Prostituierte. «Es war wirklich nicht schön. Aber es war für eine ganze Weile meine einzige Option.»
Die Schweiz ist nicht der Ort, wo man Innovation willkommen heisst.
Vor wenigen Jahren hat Tommy nun den Ausstieg geschafft. Sie habe via Facebook vom Angebot von Tabea Oppliger erfahren. Nach einem Zoom-Gespräch sass sie kurz darauf jeden Morgen um acht Uhr im Kurs.
Tommy war beeindruckt von der Hilfe, die sie erhielt. «Die Sozialarbeiterinnen sind rund um die Uhr erreichbar. Ich kann nachts eine Nachricht schreiben und erhalte eine Stunde später eine Antwort.» Das gibt Tommy die nötige Sicherheit.
Nächstenliebe aus Überzeugung
Dass Tabea Oppliger sich für Menschen wie Tommy einsetzt, liegt auch an ihrem Glauben. Sie ist wie ihr Mann in einer freikirchlichen Familie in Papua-Neuguinea aufgewachsen. Dort waren ihre Eltern missionarisch tätig.
Zurück in der Schweiz machte sie in Zürich eine Lehre als Luftfahrtangestellte. Die freikirchliche Prägung ist für Tabea Oppliger zentral, ihr Glaube «ein Anker». «Ich bin damit aufgewachsen, dass man Nächstenliebe aus Überzeugung lebt», sagt sie.
Sie lebe in einer Beziehung zu Gott. «Das ist meine Quelle und für mich etwas Persönliches, aber wenn mich jemand danach fragt, spreche ich darüber.» Bekehren wolle sie niemanden. «In Israel ist Missionieren sowieso verboten, da müsste ich gleich das Land verlassen.»
Start-up-Paradies Israel
Dass die Schweizerin Tabea Oppliger ihr soziales Unternehmen in Israel realisiert hat, begründet sie mit ihrer Kritik an der Unternehmenskultur in der Schweiz: «Die Schweiz ist nicht der Ort, wo man Innovation willkommen heisst. Ich glaube, ich wäre noch heute am Warten auf alle Zertifikate, die nötig sind, um ernst genommen zu werden.»
Tabea Oppliger hat ein Umfeld gesucht, das ihr ermöglichte, loszulegen, auch wenn das Projekt noch in der Planungsphase war. Dieses Umfeld hat sie in Israel gefunden.
Dass ihre Wahl ausgerechnet auf Israel fiel, war letztlich Zufall. Ihr Mann war zum Surfurlaub dort und vom Land begeistert. Kurz darauf verbrachten sie gemeinsam mit den drei Kindern dort Ferien und merkten: «In Israel gibt es eine Start-up-Kultur, einen Nährboden für Pioniergedanken.»
Als nichtjüdische Leute beantragten sie Visa und legten los. Das war 2014. Dass auch in Israel nicht alles nur rund läuft, hat Tabea Oppliger im Lauf der Jahre gemerkt. «Die ganze Bürokratie ist uns über den Kopf gewachsen.» Obwohl sie unterdessen fliessend Hebräisch spricht, sei es dennoch schwierig, das System zu verstehen. «Es ist interessant: Je länger wir da sind, desto mehr merke ich, wie fremd wir sind.»
Die Zukunft ist noch offen
Unterdessen ist das Visum der Familie abgelaufen. Die Oppligers haben eine permanente Aufenthaltserlaubnis beantragt. Seit Monaten warten sie auf den Entscheid. Eine unangenehme Situation, die sich noch verschärft, weil mit KitePride und dem Sozialprojekt weitere Schicksale vom Entscheid abhängen.
Doch Tabea Oppliger hat vorgesorgt: «Wir haben eine Leiterin für das Unternehmen eingestellt, eine Israelin, die das Ganze vor Ort führen wird.»
Sollte der Entscheid des Innenministeriums negativ ausfallen, will Tabea Oppliger zwischen der Schweiz und Israel pendeln. Denn für sie ist klar, dass ihr Unternehmen weiterbestehen soll: «Es gibt einem Flügel zu sehen, wie die Leute ihre Geschichten verändern können. Das ist gewaltig, dafür lebe ich.»