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Selbstoptimierung als Gefahr Macht es uns depressiv, wenn wir immer besser werden wollen?

Der Trend zur Selbstoptimierung kann uns unglücklich machen. Das sagt der Schweizer Psychiater Daniel Hell, Experte für Depressionen. Versagensängste und Schamgefühle würden zunehmen. Wie kommen wir da wieder raus?

Zur Person

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Legende: Keystone

Der Schweizer Daniel Hell ist Psychiater und emeritierter Professor für Klinische Psychiatrie an der Universität Zürich. Heute arbeitet er für die Privatklinik Hohenegg in Meilen. Als Autor veröffentlichte er zahlreiche Bücher zu Depressionen, zuletzt: «Depression als Störung des Gleichgewichts». Kohlhammer, 2011.

SRF: Sie beschäftigen sich seit den 1970er-Jahren mit Depressionen. Hat die Krankheit in den letzten Jahrzehnten zugenommen?

Daniel Hell: Das ist schwer zu sagen. Die Diagnosen haben sicherlich zugenommen. Das liegt sowohl an der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz als auch daran, dass die Kriterien für eine Depression weicher geworden sind. Aber ich schätze, auch die Erkrankungen selbst haben zugenommen.

Warum?

Zunächst ist da der enorme Leistungsdruck in unserer Gesellschaft, der Erschöpfungsdepressionen zur Folge hat, die so genannten Burnouts. Damit zusammen hängt aber auch die Beschämung, die viele Menschen erleben.

Beschämung?

Das Gefühl, blossgestellt und gemobbt zu werden, für andere nicht gut genug zu sein, oder seinen eigenen Idealen nicht genügen zu können.

Das Scheitern an dem, was man gerne sein möchte, gepaart mit dem Eindruck, Opfer widriger Umstände zu sein. Demütigungen spielen heute gerade bei selbstunsicheren Menschen nachweislich eine grosse Rolle.

Die Gefahr besteht, dass wir uns selbst ausbeuten und immer schön lächeln.

Was das früher anders?

Ja, oft. Anfang der 1970er-Jahre, als ich angefangen habe, Depressionen zu behandeln, kamen viele Menschen mit Schuldgefühlen zu mir.

Sie machten sich häufig Vorwürfe, moralischen Geboten nicht entsprochen zu haben. So fühlten sie sich etwa schuldig, weil sie fremdgegangen sind.

Und heute schämen wir uns vor uns selbst?

Wir fühlen uns gekränkt, in unserem Selbstwert herabgesetzt, weil wir stressbedingt die Leistung nicht mehr bringen, die wir selbst von uns erwarten.

Heute sind wir vermehrt kleine Ich-AGs, in denen wir zugleich Angestellter, Chef und Produkt sind. Die Gefahr besteht, dass wir uns dabei selbst ausbeuten und immer schön lächeln. Auf die Tyrannei des Über-Ichs folgte eine Diktatur des Ich-Ideals.

Aber gibt es neben dem Trend zur Selbstoptimierung nicht auch das Ideal der Authentizität, des «Sei du selbst»?

Das gibt es, aber ich sehe darin eine Kompensation, einen Gegentrend zum Mainstream der Selbstverbesserung. Letztere macht den Menschen immer mehr zu einem Objekt. Wir arbeiten an uns, an unserem Geist und Körper, wie an einer Maschine, und sprechen davon, dass «unser Gehirn» dies und das «entscheide».

Wir müssen lernen, uns selbst gegenüber achtsam zu sein, uns zu erleben.

Diese fordernde Aussenperspektive auf uns selbst begünstigt nicht nur Depressionen, sondern auch Identitätsstörungen wie etwa Borderline. Wir kommen zum Teil uns selbst abhanden, sind nicht mehr bei uns.

Wie finden wir denn in turbulenten Zeiten wie der heutigen wieder zu uns?

Indem wir uns selbst wahrnehmen, nicht durch die Selfie-Kamera am Handy, sondern indem wir versuchen, uns zu spüren, auf unsere Gefühle zu achten und sie nicht immer gleich bewerten und kritisieren. Wir müssen lernen, uns selbst gegenüber achtsam zu sein, uns zu erleben.

Autonomie darf nicht in einen narzisstischen Egotrip abgleiten.

Und wenn ich in mir drin nichts finde, das mir Orientierung gibt im Meer der unbegrenzten Möglichkeiten? Wenn ich nicht weiss, wohin meine Reise gehen soll?

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Sicher, die Freiheitspielräume unserer Zeit können überfordernd sein. Das zeigt sich an unserem Verlangen nach Ratgebern, Empfehlungssystemen, Experten und Regeln. Man traut sich selbst nicht mehr.

Gleichzeitig scheint mir das Ideal der Selbstbestimmung, der Autonomie, heute oft zu hoch angesetzt. Sehr oft sind wir doch gar nicht autonom. Und das ist gut so. Wir sind in Gesellschaften und Gemeinschaften eingebunden.

Wir übernehmen Wertvorstellungen, auch diejenige des modernen Individualismus, und machen im Alltag andauernd Kompromisse. Das zur Kenntnis zu nehmen, kann entlastend sein.

Auch bei der Autonomie scheitern wir also am Ideal?

Ja, wenn es absolut gesetzt und falsch verstanden wird. Autonomie darf nicht in einen narzisstischen Egotrip abgleiten. Ich muss erkennen, wo ich zurückstecken muss. Die Welt tanzt nicht immer nach meiner Pfeife. Echte Autonomie erkennt ihre Grenze. Diese Grenze ist das Du.

Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 2.7.2017, 11:00 Uhr.

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