Der Junge war dabei, als sein Onkel erschossen wurde. Er beschreibt, wie ihm die Hirnflüssigkeit auf die Schultern spritzte. Der Junge ist ein Mitglied vom Zürcher Montagschor. Er vertraut seine Erlebnisse Christoph Homberger an, dem Dirigenten. Der fragt sich: Was für Narben muss das hinterlassen?
Solche und ähnliche Geschichten hört Christoph Homberger oft, seit er Mitte September 2015 den Montagschor ins Leben gerufen hat. Der einst gefeierte Konzert- und Opernsänger weiss am Tag der schweizerischen Ja-Stimmen zur Masseneinwanderungs-Initiative (im Februar 2014), dass er dagegenhalten muss. Die Idee eines Chors, bestehend aus Flüchtlingen und Schweizern, war geboren.
Integration durch Volkslieder
Was «Hombi» klar war: Der Chor soll Schweizer Volkslieder singen. Und keiner der Sänger muss singen. Man darf auch einfach dabeisein. Dem trostlosen Warten im Durchgangszentrum einen Kontrapunkt setzen. Atmen, vergessen.
Zu Beginn, im September 2015, versammeln sich bloss ein Häuflein Schweizer und noch weniger Flüchtlinge auf dem Zürcher Lindenhof. Jeweils montags, daher der Name. «Flüchtlinge kamen zwar, aber bloss Männer.»
Der Chor wächst und wächst
Bis Hombi entdeckt, woran es krankt: Die Flüchtlinge können gar nicht anreisen. Das Geld (13 Franken pro Tag) reicht nicht für eine Tram- oder Zugfahrt. Da springen ein alter Schulkollege und dessen Freunde ein. Lassen sich von der Montagschor-Sache begeistern. Fortan ist für Support, Werbung und Crowd-Funding gesorgt.
Der Chor wächst und wächst. Bald schon stossen Frauen dazu. Homberger: «Das braucht einiges an Vertrauen. Nach Wochen haben sie mich direkt angeschaut. Und ich habe sie zum Abschied geküsst. Auch wenn´s für sie befremdlich war.»
Mitsingen und essen
500 Menschen, darunter ganze Familien, treffen sich schlussendlich Montag für Montag. Sie üben Zungenbrecher wie »S´isch äben e Mönsch uf Ärde« und »Du weisch nid wär i bi«. Schweizerisches Liedgut, das wohl viele Schweizer selbst nicht kennen.
Homberger: «Was mich entsetzt: Wie hungrig die Flüchtlinge sind! Wir boten jedes Mal ein bescheidenes Buffet an. Am Schluss der Proben war alles «rübisundstübis» aufgegessen! Warum schafft es ein reiches Land wie die Schweiz nicht, seinen Flüchtlingen genug zu essen zu geben?»
In den letzten Proben vor dem Schluss- und Höhepunkt singen über 400 Menschen vor allem aus Syrien, Irak, Iran und Eritrea im Chor mit. Eine logistische Meisterleistung von Homberger und seinen Freunden. Längst hat man «Asyl» gefunden auf der Probebühne des Zürcher Opernhauses. Dort gibt es ein Buffet für alle. Und am Schluss werden Ticket-Auslagen ausgezahlt. 6000 Franken kostet nun jede Probe. Spender und Sponsoren übernehmen.
Ärger über das Ärgern
Probleme? Fast keine. Am meisten ärgert sich der Dirigent über die Einheimischen, die sich ärgern. Darüber, dass einige Flüchtlinge gar nicht mitsingen. Sondern nur zuhören. «Dabei habe ich genau das von Anfang an gewollt: Keiner muss singen. Wir wollen einfach nur zwei Stunden Auszeit vom öden Warten bieten. Nicht mehr und nicht weniger!»
«Schlitzohren» nennt der Dirigent diejenigen, die nach den Proben gleich zweimal hintereinander anstehen, um das Geld fürs Billet zu erhalten. Die gibt´s, gibt Hombi zu. Aber: Der Montagschor wird vielen Flüchtlingen wichtig. Sie sagen zu Homberger: «Wir warten auf den Asyl-Entscheid des Bundes und auf den Montagschor.»
Freude herrscht, und Rührung
Anfang April dann der grosse Auftritt. Die SBB erlauben ein Konzert mitten im Zürcher Hauptbahnhof. Am gleichen Tag kann man die Schweizer Volkslieder auch noch vor dem Opernhaus hören.
Obwohl nur rund 250 der 400 Flüchtlinge auftauchen, schafft das gemeinsame Musizieren (100 Schweizer Sänger sind dabei) eine unheimlich warme Atmosphäre. Die über tausend Zuschauer freuen sich. Der Dirigent freut sich; vor allem, dass die Polizei nicht anwesend ist. Rührung macht sich breit.
«Es gibt also doch noch positive Erlebnisse rund ums Thema Flüchtlinge», bemerkt eine junge Zuhörerin. Die Fremden sind den Schweizer Mitsängern nicht mehr fremd. Es entstehen Freundschaften. Eine ältere Dame zum Beispiel erzählt, dass sie in Zukunft eine Flüchtlingsfamilie regelmässig einladen will.
Geld und Energie am Ende
Christoph Homberger wird zur Anlaufstelle für allerhand Probleme. Manchmal handfeste: «Hombi, can you give me a house?» Für Hombi ist der Chor eine Freude, aber er sieht auch die Verantwortung, der er nicht gerecht werden kann.
Den Montagschor gibt es nicht mehr. Nach den Auftritten ist Schluss. Das Geld fehlt. Die Energie ebenso. Christoph Homberger und seinen Sängern war das von Anfang an bewusst. Den Flüchtlingen bleibt die Erinnerung – und das Warten.
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei 3sat.de, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen.
Für Mobilnutzer, die das Video nicht sehen: Hier geht's zum Film, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen