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Gesellschaft & Religion Skirennsport: In Mürren erfunden und doch «Very British»

Die Königsdisziplin Abfahrt und die Könnerdisziplin Slalom sind heute die Hauptattraktionen des Skisports. Erfunden haben sie nicht die Schweizer oder Österreicher, sondern die Briten. Der Ursprungsort allerdings liegt im Berner Oberland, in Mürren.

Sir Arnold Lunn gilt als Vater der Slalom- und der Abfahrtsdisziplin. Der «Skipapst» hat nicht nur den Wintersport, sondern auch Mürren, die höchstgelegene Berner Tourismusdestination, nachhaltig geprägt. Sein Enkel Bernard – Wahl-Mürrener der vierten Lunn-Generation – kennt so einige bezeichnende Anekdoten.

1910: Neumodische Winterferien am Berg

«Mein Grossvater unternahm mit Freunden oft kleine Skiausflüge auf seinen Lieblingshügel. Im Rucksack nahmen sie dann immer Mauler-Champagner mit, den sie oben tranken. Dieses Ritual wurde so bekannt im Dorf, dass die Leute den namenlosen Hügel schliesslich Maulerhubel tauften.» Anfangs des 20. Jahrhunderts betrieb Henry Lunn ein florierendes Reiseunternehmen. Er brachte seine betuchte britische Kundschaft fast ausschliesslich ins Berner Oberland.

In Mürren kaufte Henry Lunn das Hotel «Des Alpes», baute es aus, und taufte es in «Palace» um. Es wurde sein Hauptquartier in der Schweiz. Um es ganzjährig auszulasten, drängte er die Betreiber der Mürrenbahn 1910 erfolgreich, auch im Winter zu fahren. Als erster bot Lunn Ferien in der Wintersaison an, und seine Gäste kamen in Scharen. Sie machten das kleine Bergdorf zu einer britischen Hochburg. Der junge Hoteliersohn Arnold Lunn war jede Saison mit dabei und zuständig für das Vergnügungsprogramm: Eislauf, Curling und Schlittenfahren. Als letzter Schrei kam damals gerade das Skifahren auf.

1912: Der erste Sportlift im Berner Oberland

Mit ihrem Sinn für sportliche Extravaganz waren die Briten sofort Feuer und Flamme. Man unternahm Bergtouren und probierte die neumodischen norwegischen Latten für Abfahrten aus - Skifahren begann als snobistisches Vergnügen der Oberklasse. Frauen waren von Anfang an mit dabei.

1912 geschah Entscheidendes: Mürren baute den ersten Sportlift des Berner Oberlands, die Standseilbahn auf den Allmendhubel. Die Wintersportler konnten ihrem Vergnügen nun auch ohne mühsames Aufsteigen frönen. Das wurde kräftig beworben, es erschienen Annoncen und Schneeberichte in der britischen Presse. Im Nu errang Mürren den Ruf eines internationalen Hot Spots für Ski-Enthusiasten.

Arnold Lunn entwickelte früh den Drang, aus dem reinen Skivergnügen eine ernstzunehmende Sportart zu formen, und so organisierte er in Crans Montana 1911 eine erste Form von Abfahrtsrennen und nannte es den «Kandaharcup». Ab 1912 fand er in Mürren statt. Der gebürtige Mürrener Max Amstutz hat diese Pionierzeiten im Buch «die Anfänge des alpinen Skirennsports» aufgearbeitet: «Die Engländer damals waren richtige Abenteurer, sie stürzten sich in die gefährlichsten Gebiete und bewiesen enormen Mut.» Das und die feine Lebensart der Gäste machten auf die Bergler einen nachhaltigen Eindruck. Sie waren stolz auf «ihre Briten».

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Amstutz: «Mein Onkel und Arnold Lunn verstanden sich sehr gut.»
Aus Kultur Extras vom 15.01.2013.
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1916-18: Skikurse für britische Soldaten

Der erste Weltkrieg unterbrach die touristische Entwicklung in der ganzen Schweiz. Aber Mürren hatte Glück, das Rote Kreuz internierte 800 britische Soldaten in den Hotels und Chalets des Dorfes. Arnold Lunn hatte den Auftrag, für sie zu sorgen. Skifahren war mittlerweile seine Leidenschaft geworden, also organisierte er Skikurse und -wettbewerbe für die Internierten.

Auch im «Chalet Alpina» der Familie Amstutz logierten Internierte. Der junge Walter war fasziniert von den Briten, von ihrer eleganten Weltläufigkeit genauso wie von ihrem Draufgängertum. Er mass sich mit ihnen im Skifahren und lernte so Arnold Lunn kennen. Dieser war beeindruckt von der Sportlichkeit des 14 Jahre jüngeren Amstutz. Sie wurden schnell Freunde und teilten den Ehrgeiz, den Skisport voran zu bringen.

1920: Die goldene Ära von Mürren beginnt

Walter Amstutz als Naturtalent und Arnold Lunn als Organisationstalent sollten zusammen das Power-Gespann des Skisports bilden. In Mürren waren sie am richtigen Ort, denn nach dem Ende des Weltkriegs hatten die heimkehrenden Soldaten den Ruf des Kurortes über ganz Britannien verbreitet und so für einen wahren Boom gesorgt: 1920 begann Mürrens goldene Ära als Skiresort.

Arnold Lunn organisierte wieder den Kandahar-Cup und weitere Skirennen. Es waren meist lange Schussfahrten mit Massenstart. Das wurde in den elitären Kreisen schnell populär. 1925 inszenierte Arnold Fanck ein solches Spektakel im Film «Der heilige Berg» erstmals für ein breites Kinopublikum. Lunn entwickelte auch eine bestimmte Form des Hindernisrennens weiter, mit dem er schon die Internierten unterhalten hatte. Er kam auf die Idee der Fahnenstangen und nannte diese Parcours «Slalom», nach dem norwegischen Begriff für «Zick-Zack-Kurs».

Werbeplakat für das erste internationale Abfahrtsrennen aus den 30er Jahren.
Legende: Plakat des ersten FIS-Weltcup, 1930. AS Verlag

1921: Die Lauberhorn-Legende

Arnold Lunn und seine Freunde bildeten den britischen Skisport schlechthin und so kam es, dass er den Auftrag erhielt, britische Skimeisterschaften in diesen neuen Disziplinen durchzuführen. Ende 1921 organisierte er das erste Abfahrtsrennen am Lauberhorn, weil er das grosse Potenzial der Hänge oberhalb von Wengen schnell erkannt hatte. So legte er den Grundstein der Lauberhorn-Legende mit ihrer bis heute ungebrochenen Strahlkraft. Anfangs 1922 steckte er dann den ersten offiziellen Slalom der Skigeschichte am Hang neben dem Trassee der Allmendhubelbahn in Mürren.

Lunn gab sich mit den britischen Meisterschaften nicht zufrieden. Er und Amstutz wollten mehr: die hochoffizielle Anerkennung durch den internationalen Skiverband FIS. Dieser war noch immer von den Skandinaviern dominiert, die nur Langlauf und Sprungkonkurrenzen als seriösen Skisport gelten liessen.

1936: Skirennsportarten werden olympisch

Als Kampforganisationen gründeten die beiden Ski-Enthusiasten 1924 akademische Vereine: Lunn den britischen Kandaharclub und Amstutz den Schweizerischen Akademischen Skiclub SAS. Diese beiden elitären Organisationen fuhren ausschliesslich nach den neuen Regeln und traten vor grossem Publikum in Mürren regelmässig in Slalom und Abfahrt gegeneinander an.

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Im Berner Oberland wurde der alpine Skirennsport erfunden
Aus Kulturplatz vom 16.01.2013.
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Diese Spektakel entfalteten eine breite Wirkung und verfehlten ihr Ziel nicht. 1930 gelang dem unermüdlichen Lobbyisten Lunn der Durchbruch: der FIS-Kongress in Oslo anerkannte die neuen alpinen Skidisziplinen. Klar holte Arnold Lunn den Auftrag für die Durchführung des ersten Weltcups gleich nach Mürren. So erlebte die kleine, aber feine Tourismusdestination im Berner Oberland 1931 die Geburtsstunde des internationalen Skizirkus. 5 Jahre später fanden Abfahrt und Slalom schliesslich auch Eingang ins Programm der olympischen Winterspiele.

Chronologie des Skisports

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1910

Hotel Palace öffnet Winterbetrieb

1911

«Kandaharcup» in Crans Montana

1912

erster Sportlift in Mürren

1916-1918

Internierung von 800 britischen Soldaten

1921

erstes Abfahrtsrennen am Lauberhorn

1922

erstes Slalomrennen in Mürren

1924

Gründung akademische Skiclubs

1930

FIS anerkennt alpine Disziplinen

1931

erster Weltcup in Mürren

1936

olympische Disziplinen

Buchhinweis

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Max D. Amstutz: «Die Anfänge des alpinen Skirennsports – The Golden Age of Alpine Skiing». AS Verlag, 2010.

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