Das Wichtigste in Kürze
- Die Sowjetunion zerbrach an drei Grundproblemen, deren Wurzeln weit in die Geschichte des Landes zurück reichen.
- Das erste Grundproblem war die enorme Grösse des Landes – und den damit verbundenen Kosten für Sicherheitsmassnahmen.
- Ein weiteres Problem fand sich in der Wirtschaft: Russland war seit jeher ökonomisch rückständig.
- Das dritte Problem war die Machtkonzentration: Auch der Sowjetstaat setzte das autokratische politische System der Zarenzeit fort.
- 1985 versuchte Michail Gorbatschow die drei Grundprobleme zu beheben – ohne Erfolg.
Eine Utopie ist gescheitert
Der Sowjetstaat war bei seiner Gründung 1922 mit dem Anspruch angetreten, die Ideen von Karl Marx in die Tat umzusetzen. Das Eigentum zu verstaatlichen und dadurch eine gerechte, freie und friedliche Gesellschaft aufzubauen. Diese Raison d’Être des ersten kommunistischen Staates erwies sich Ende 1991, als das Riesenreich in seine Teilrepubliken zerfiel, endgültig als Utopie.
War der Marxismus schlicht nicht für die Menschen gemacht? Musste die Sowjetunion deshalb zwingend scheitern? Womöglich. Mit Sicherheit ebenso wichtig für den Untergang der Sowjetunion waren jedoch drei historische Grundprobleme, deren Wurzeln weit zurück reichen.
Das teure Imperium
Nicht erst die Sowjetunion, bereits das russische Zarenreich war ein gigantisches Imperium. Dahinter steckte nicht nur das Machtstreben der Eliten, sondern auch ein in Russland weit verbreitetes Bedürfnis nach Sicherheit.
Russland hatte im Laufe seiner leidvollen Geschichte immer wieder die Erfahrung gemacht, vom Ausland überfallen zu werden: von den Mongolen im Mittelalter, später von Napoleon, von den Deutschen während der Weltkriege im 20. Jahrhundert.
Das Imperium bot aufgrund seiner Grösse Schutz. Es verschlang jedoch immense Ressourcen und überforderte die russische Wirtschaftskraft bei weitem – nicht erst zur Sowjetzeit, sondern seit dem 16. Jahrhundert, als das damals wesentlich kleinere Russland territorial zu expandieren begann.
Die gefesselte Wirtschaft
Das zweite in der Geschichte angelegte Grundproblem, das zum Untergang führte, war wirtschaftlicher Natur. Russland war seit jeher ökonomisch völlig rückständig. Die Sowjetführer versuchten dies nach der Oktoberrevolution 1917 zu ändern.
Sie setzten jedoch fatalerweise nicht auf freies Unternehmertum, sondern peitschten den wirtschaftlichen Wandel mit brutalsten Methoden «von oben» durch. Die staatliche Planwirtschaft erwies sich jedoch als zu träge, um im wirtschaftlichen Wettlauf mit dem dynamischeren westlichen Kapitalismus bestehen zu können.
Der unfreie Machtstaat
Ein drittes historisches Grundproblem des Sowjetstaats bestand darin, dass er das autokratische politische System der Zarenzeit fortsetzte. Die kommunistische Partei übernahm 1917 das Machtmonopol des Zaren und foutierte sich um aufklärerische Errungenschaften wie Gewaltenteilung oder Rechtsstaat. Auch wurde den einzelnen Nationalitäten im Vielvölkerstaat keine föderalistische Selbstbestimmung zugestanden.
Reform und Untergang
Als 1985 Michail Gorbatschow an die Macht gelangte, erkannte er, dass die Sowjetunion um tiefgreifende Reformen nicht herumkommen würde. Er verordnete die «Perestroika» (Umbau) und «Glasnost» (Transparenz).
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Dabei setzte Gorbatschow den Hebel gleichzeitig bei allen drei historischen Grundproblemen an: Den durch das Imperium verursachten Ressourcenverschleiss reduzierte er, indem er die Satelliten in Osteuropa in die Unabhängigkeit entliess, sich aus Afghanistan zurückzog und das Wettrüsten beendete.
Der gelenkten Wirtschaft verordnete er liberale Reformen – und scheiterte: Das bestehende System wurde zwar zerschlagen. Aber eine marktwirtschaftliche Ordnung konnte nicht Fuss fassen. Die Sowjetunion glitt wirtschaftlich an den Abgrund.
Spektakuläres Scheitern
Als Schuss ins eigene Knie erwies sich für Gorbatschow schliesslich, dass er – drittens – versuchte, mit mehr öffentlicher Transparenz den Machtapparat umzubauen. Zahllose Medienberichte über die enormen Unzulänglichkeiten der Staatsführung entzogen dem kommunistischen Staat und seinen Exponenten jede Legitimität – bis hin zu Lenin.
Schliesslich erklärte sich eine Teilrepublik nach der anderen, von Estland über Georgien bis zur Ukraine und Russland, für unabhängig. Der erste kommunistische Staat der Welt hörte auf zu existieren. Er hatte spektakulär darin versagt, die Jahrhunderte zurück reichende historische Erblast abzutragen. Er hatte sie vielmehr weiter aufgestaut – und damit sein eigenes Ende besiegelt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 5.12.2016, 9.03 Uhr