Kurz nach Ilanz am Eingang zum Lugnez fällt mir das sogenannte Frauentor auf. Der steinerne Torbogen steht etwas verloren am Strassenrand. Er war einst Teil einer Sperrmauer, die das Tal abriegelte und schützte.
Ich erfahre von einer Heldentat von Frauen im 14. Jahrhundert. Sie hätten damals das Tal an der Seite ihrer Männer gegen fremde Vögte verteidigt, indem sie Steine und Geröll auf den Feind herabdonnern liessen.
Wie Morgarten, aber mit Frauen
Die Erzählung erinnert mich an die Schlacht von Morgarten. Nur waren hier in der Val Lumnezia, wie die Einheimischen das Tal nennen, Frauen die Heldinnen.
Wahrheit oder Legende? Schwer zu sagen. Das Ereignis wirkt jedenfalls nach. Seither sitzen die Frauen in der bedeutendsten Kirche im Tal, im Ort Pleif, auf der rechten Seite – da, wo normalerweise die Männer sitzen. Und sie gehen als Erste zur Kommunion. Das sind Privilegien.
Frauen auf den Ehrenplätzen
Touristisch wird die Val Lumnezia als «Tal des Lichts» vermarktet. Für mich ist es das Tal der Frauen. In den KirchVal Lumnezia en und Kapellen sehe ich viele Abbildungen von Frauen.
In der Kirche Nossadunna im Dorf Degen zähle ich allein auf dem Hauptaltar sieben Statuen von heiligen Frauen, darunter die Heilige Margareta. Das ist ausserordentlich. Normalerweise thronen Männerstatuen auf den Altären.
Das ist auch der Bündner Sängerin Corin Curschellas aufgefallen. Sie zeigt mir eine besonders schöne Darstellung der Heiligen Margareta in der Kapelle in Lumbrein. Die Heilige wird mit einem Drachen dargestellt.
Im Gegensatz zum Heiligen Georg, der als Drachentöter in die Geschichte eingegangen ist, besänftigt Margareta den Drachen, ohne ihn umzubringen.
Corin Curschellas erklärt: «Sie hat das Wilde und Unbändige gezähmt». Der Drache sei ein Symbol für die unbändige Kraft der Natur. Die Heilige Margareta steht demnach für einen pfleglichen Umgang mit Natur und Schöpfung.
Göttin der Fruchtbarkeit
Was hat es mit der Heiligen Margareta auf sich? Corin Curschellas singt mir ein altes rätoromanisches Lied von der «Sontga Margriata» vor. Das Lied zeige, dass sich hinter der Heiligen eine vorchristliche Fruchtbarkeitsgöttin verberge.
Die heidnische Göttin Rätia wurde früher in den Gebieten des heutigen Graubündens und Tirols als Muttergottheit, als Spenderin des Lebens und Herrin über Zauberkräfte verehrt. Die christianisierte Version der Rätia ist die Heilige Margareta.
Die alten religiösen und spirituellen Traditionen sind im Tal nach wie vor präsent. Sie verändern sich und werden in verschiedenen Formen weitergegeben. Das fällt mir vor allem weit hinten im Tal auf.
Kraftvolle Orte im Lugnez
Hier im Dörflein Vrin ist Pirmina Caminada aufgewachsen. Sie ist Kräuter- und Räucherfrau, Jägerin und die erste Wildhüterin Graubündens. Und sie interessiert sich für die Kraftorte im Tal.
Pirmina Caminada zeigt mir ihre ganz persönlichen Kraftorte im Lugnez. Da gibt es einen riesigen Findling in einem Erlenwald bei Surcasti – einen Teufelsstein, den Crap dalla Gneida.
Der Teufel habe mit dem Stein einst eine Kirche zerstören wollen, sein Ziel jedoch verfehlt. «Der Stein wurde wohl astronomisch und kultisch genutzt», meint die Natur- und Umweltfachfrau Pirmina Caminada.
Sie regt an, den Stein aufzusuchen, wenn Veränderungen im Leben anstehen: «Hier kann man ein Problem in Ruhe anschauen, eine Situation umwandeln, sich neu ausrichten.» Die Ruhe und die Kraft spüre ich an diesem geheimnisvollen Ort sehr wohl.
Ein weiterer Kraftort im Tal ist für Pirmina Caminada der Weiler Puzatsch. Er liegt am Übergang vom Lugnez zur Greina-Hochebene, einer Naturlandschaft von nationaler Bedeutung.
Im Juni sind die Wiesen voller Alpenrosen. Hier wachsen auch seltene Kräuter. Die Ruhe hier oben ist für mich ausserordentlich – eine Einladung, innerlich still und gelassen zu werden.
Die Frauen, die ich im Lugnez treffe, lassen sich von alten religiösen Traditionen und Geschichten inspirieren und von den Bräuchen und dem Wissen der Bäuerinnen und Bauern im Tal. Daraus schaffen sie etwas Neues. Spirituelle Wege sind vielfältig – im Tal der Frauen.