EINSTIEG
Samstag, 2. November, 08:40 Uhr: Schon seit den frühen Nachtstunden hatte es ununterbrochen geregnet, und es schien nicht aufhören zu wollen, es regnete nicht nur, es goss in Strömen und schüttete aus Kübeln. Es war jetzt kurz vor neun Uhr, aber es schien nicht wirklich hell zu werden. Die ganze Stadt lag unter einem trüben bleigrauen Schleier, der den Eindruck erweckte, er wolle sich nie mehr verziehen. An solchen Tagen verströmte das Nydeggspital mit seinen unzähligen stillosen Anbauten den depressiven Charme eines zu schnell gewachsenen Bürokomplexes in der ehemaligen DDR. Der depressivste Teil war nach allgemeiner Überzeugung der Eingang zum Ambulatorium des Notfallzentrums, der in den späten 80ern renoviert worden war, wobei man vergeblich gehofft hatte, mit allerlei kosmetischen Tricks die selbstbewusste Klobigkeit der Betonfassade zum Verschwinden bringen zu können.
Da aber die meisten Menschen, wenn sie – als Kunden – zum Notfallzentrum wollten, in der Regel ohnehin keinen Sinn für Schönheit oder gar ein Kunstwollen verspürten, sondern getrieben von Schmerz, Angst und blutenden Wunden ganz etwas anderes suchten, nämlich sofortige medizinische Hilfe, Rettung und Heilung, war die mangelhafte Schönheit des Nydeggspitals sozusagen von untergeordneter Bedeutung.
Das galt auch für das Innere des Empfangsraums, in dem ein riesiges Aquarium als Raumteiler funktionierte und den Bereich der Empfangsschalter von der offenen Wartezone trennte. Wer sich dort auf einen der cremefarbenen Sessel setzte, blickte direkt in eine dramatisch beleuchtete Unterwasserszenerie aus Tuffsteinfelsen, grossblättrigen Schwertpflanzen und Javafarn, der sich sanft in der schwachen Strömung der Filteranlage hin und her wiegte. Die zwei majestätischen Buntbarsche, die sich dieses liebevoll gepflegte Biotop mit einem Schwarm Blauer Neons und ein paar Flamingo-Guppys teilten, nahmen absolut keine Notiz von den Wartenden, ihre surreale Schönheit entsprach der absolut unmenschlichen Gleichgültigkeit, mit der sie auf die unzähligen menschlichen Dramen reagierten, die sich Tag für Tag vor ihnen abspielten.
Ruedi Banz hat Bauchweh
Wann der Schmerz in seinem Bauch wirklich angefangen hatte, wusste Ruedi Banz nicht mehr so genau. Es hatte mit einem Ziehen begonnen, mit kleinen Stichen in der Bauchmitte, ein wenig oberhalb des Bauchnabels, manchmal hatte es sich etwas ausgebreitet, strahlenförmig, vor allem nach oben, Richtung Rippenbogen. Lästig, mehr nicht. Dann, es war vor ein paar Wochen gewesen, hatte der Schmerz ihn zum ersten Mal überfallartig heimgesucht, wie ein intestinaler Blitzschlag, mitten in einer Vertretersitzung über die neuen Auspuffanlagen aus Edelstahl und Karbon, die er, Banz, für zu teuren Schnickschnack hielt, und sein Chef für die Geschäftsidee des Jahrhunderts.
Er hatte sich reflexartig zusammengekümmt und dabei seinen Kaffee über die Hochglanzprospekte geschüttet, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Das Ganze hatte nur ein paar Sekunden gedauert, dann hatte er sich wieder so weit gefasst, dass er, Entschuldigungen murmelnd, mit einer Papierserviette den Prospekt reinigen und dem Vertreter beruhigend zuzwinkern konnte. Der Chef hatte nur missbilligend den Kopf geschüttelt und war in seiner völlig übertriebenen Propagandarede für Karbonbeschichtungen weitergefahren. Später war dann noch ein E-Mail gekommen. Was da verdammt noch mal los gewesen sei? Ob das vielleicht ein Versuch gewesen sei, den Deal mit den Karbonauspuffen zu sabotieren?
Annemarie tippt auf Fuchsbandwurm
Und jetzt, morgens kurz vor neun an diesem düsteren zweiten Tag im November, lag Ruedi Banz-Lacher, 51-jährig, schütteres Haar, grosse Nase und abstehende Ohren, Abteilungsleiter in einem Autozulieferbetrieb, spezialisiert auf Auspuffanlagen, auf dem Rücksitz seines Wagens und stöhnte leise vor Schmerzen. Am Steuer sass Annemarie, seine Frau, die ihn zurzeit ein wenig an den Regen draussen erinnerte, weil sie bereits seit gefühlten zwei Stunden ununterbrochen auf ihn einredete und dabei immer wieder verkehrsgefährdend nach hinten schaute, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Was Annemarie Lacher-Banz im Detail sagte, war nicht so wichtig, denn Ruedi bekam ohnehin nur die Hälfte mit, weil er vollauf mit seinen Bauchkrämpfen beschäftigt war. Es ging ihr im Wesentlichen darum, dass sie bereits mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wusste, was die Ursache für Ruedis Bauchweh war: ein Fuchsbandwurm, den er sich beim exzessiven Pilzen im Bremgartner Wald geholt hatte.
«Bitte hör mir jetzt zu, Ruedi! Ich weiss es, ich habe recherchiert. Der Fuchsbandwurm ist extrem gefährlich, und man muss ganz schnell was machen, weil die Larven jetzt nur noch kurze Zeit im Darm sind und nachher in die Leber perforieren, verstehst du!? Und dann kann man nichts mehr machen. Und von da gehen sie ins Gehirn und ...»
«Wir sind ja gleich da», sagte Ruedi vom Rücksitz mit schwacher Stimme, «und die wissen im Notfall dann sicher, was sie machen müssen, die untersuchen doch alles.»
Annemarie drehte sich kurz um und überfuhr beinahe einen Velofahrer. «Ja! Hoffentlich! Aber es ist wichtig, dass die das wissen, dass du pilzen warst, noch besser wäre es, wenn ich das selbst erzählen würde, aber ich muss sofort wieder losrasen, weil ich diesen Labrador schamponieren muss, ich kann Frau von Muralt nicht hängen lassen, verstehst du? Ich komme dann so schnell ich kann ...»
Annemarie Lacher-Banz, 46, füllig, blond und grossgewachsen, betrieb seit ein paar Jahren einen florierenden Hundesalon. «Beauty Dogs» war ihr ganzer Stolz, sie liebte Hunde und liebte es noch mehr, mit der meist weiblichen Hundebesitzerschaft zu tratschen. Ausserdem war sie eine leidenschaftliche Hobbydiagnostikerin, kannte alle Krankheiten oder zumindest deren Namen und trieb mit ihren Fragen und diagnostischen Vorschlägen, die von einem imensen Halbwissen getrieben waren, jeden Arzt sofort in den Wahnsinn.
«Gell, du nimmst es mir nicht übel, dass ich nur kurz bleiben kann, du verstehst doch, dass ich dieses Schamponieren nicht verschieben kann, Frau von Muralt tut mir so leid, der Hund stinkt eben so schlimm, vor allem wenn es so regnet wie heute, und gell du vergisst nicht ...»
«Wir sind da», sagte Ruedi in eine der winzigen Pausen im Sprachfluss seiner Frau hinein, als er mit grosser Erleichterung die Fassade des Gebäudes erkannt hatte, «da ist das Notfallzentrum!»
ERSTE STATION: ANAMNSESE
Ein Abszess
Frau Dr. Lena Bieberle seufzte nachsichtig und lächelte ihr Gegenüber freundlich an. Es nützte alles nichts. Der ältere, etwas übergewichtige Mann, der vor ihr auf dem Behandlungsbett sass, atmete schwer, schaute sie empört an und sprach immer lauter. «Ich weiss gar nicht, wie sie sich das vorstellen!? Das ist eine Unverschämtheit, das muss ich mir in meinem Alter doch nicht mehr bieten lassen!! Ich habe doch auch Rechte!! Besonders wenn es um meine Intimzone geht!!»
Frau Dr. Bieberle tippte eine Taste auf der internen Telefonanlage. «Herr Hilfiker, kommen Sie mal ganz schnell ins Behandlungszimmer 3. Stark vereiterter Abzess. Abdominal. Der Patient besteht darauf, von einem Mann behandelt zu werden.» Der ältere Mann schaute misstrauisch. «Was heisst das, besteht darauf?! Das ist mein Recht! Ich ...» Die Türe des Behandlungszimmers ging auf und ein bleicher etwas tolpatschig wirkender junger Mann kam herein. «Das ist Herr Hilfiker. Herr Hilfiker wird sich jetzt um sie kümmern, ich muss ein Zimmer weiter ...»
«Was!? Ein Student! Warum werde ich nicht von einem richtigen Arzt untersucht. Ich werde hier behandelt wie der letzte Arsch!!!» Cand. Med. Toni Hilfiker schaute etwas verunsichert. Frau Dr. Bieberle warf ihm einen vielsagenden Blick zu und verschwand mit dem halblauten Satz «Ihr Abszess!» aus dem Behandlungszimmer.
Allerseelen
Abgesehen von ein paar zugedröhnten jungen Menschen aus dem Schwarzbubenland und dem Oberwallis und drei Fällen häuslicher Gewalt war heute Nacht nicht sehr viel los gewesen. In einem der Fälle hatte es sich um einen 48-jährigen Marketingleiter gehandelt, dem seine Frau offenbar mit den Worten «Gib’s zu, du liebst ihn mehr als mich!!!», seinen Laptop entrissen und ihm über den Schädel gezogen hatte. Anschliessend hatte sie das brandneue Gerät mit Retina-Bildschirm wie einen Frisbee quer durchs Schlafzimmer und die Scheibe des geschlossenen Fenster hindurch in die regnerische Nacht hinaus geschleudert, wobei zum Erstaunen von Dr. Lena Bieberle das eigentliche Problem des verletzten Mannes nicht seine Schädelfraktur, sondern der traumatische Verlust des Laptops gewesen war, was dem Satz seiner Frau im Nachhinein eine gewisse Berechtigung verliehen hatte.
Da Assistenzärztin Dr. Bieberle den Abzess am Hintern des älteren Mannes erfolgreich ihrem Unterassistenten Hilfiker überlassen hatte, der wie viele Studenten zu fast nichts zu gebrauchen war, konnte sie noch kurz nach einem der Jugendlichen sehen, der in der Nacht mit der Diagnose Drogenabusus eingeliefert worden war, bevor sie sich dann einem Herrn Banz mit unklaren Bauchschmerzen zuwenden konnte, der im Behandlungszimmer 5 auf sie wartete. Der junge Mann war wieder bei Bewusstsein, lag aber teilnahmslos, fast katatonisch auf dem Bett und als Frau Dr. Bieberle ihn fragte, warum denn heute Nacht so viele Jugendliche aus dem Oberwallis mit ähnlichen Symptomen eingeliefert worden seien, flüsterte er kaum hörbar: «Allerseelen! Wissen Sie das denn nicht!?», was bei Dr. Lena Bieberle, die aus einem erzprotestantischen Elternhaus im Hochschwarzwald stammte und nicht zuletzt deshalb schon in der Pubertät eine überzeugte Agnostikerin geworden war, tatsächlich zutraf. Der junge Mann hatte nach einem exzessiven Mix aus Ritalin und Wodka um vier Uhr morgens noch ein Ecstasy eingeworfen, worauf er versucht hatte, bei der neuen Bärenanlage über die Abschrankung zu klettern und einen der schnuckeligen kleinen Bärchen zu liebkosen, um dann aber gerade noch rechtzeitig zu kollabieren.
Anamnese
Als Ruedi Banz etwa eine Stunde, nachdem ihn seine Frau in grosser Eile vor dem Spital abgesetzt hatte, nach dem langwierigen Ausfüllen von Formularen und der Entnahme diverser Körperflüssigkeiten, endlich im Behandlungszimmer 5 auf einem Bett lag und die Fragen von Frau Dr. Bieberle nach Symptomen, möglichen Allergien, eingenommenen Medikamenten, letztem Stuhlgang, flüssig?, fest?, beantworten musste, vor allem aber eine umfassende Beschreibung seiner Schmerzen liefern musste – welcher Art sind die Schmerzen? Rezidivierend? Also Wiederkehrend? Oder krampfartig? Spitz? Stumpf? Brennnend? Ausstrahlend? – waren die Schmerzen fast unerträglich stark geworden.
Dann kam er selbst mit seiner Meinung zu Wort, erwähnte aus lauter Angst nur die Hypothese seiner Frau, die glaube, dass er einen Fuchsbandwurm habe, weil er im Oktober so oft pilzen war. «Meine Frau hat mir beschrieben, wie die Larven des Fuchsbandwurms im Darm schlüpfen und dann durch so eine Ader in die Leber perforieren ... ich habe solche Angst ... ich ...» Frau Dr. Bieberle wollte gerade beruhigend entgegnen, dass die Hypothese Fuchsbandwurm höchst unwahrscheinlich sei, da ging die Türe des Behandlungszimmers auf und Annemarie Lacher-Banz stürzte aufgelöst herein.
«Wie geht es Dir, Schatz? Hast du der Frau Doktor vom Pilzen erzählt? Tut mir leid, dass ich zu spät bin, das Schamponieren des Labradors hat länger gedauert, und dass du soviel Kaffee trinkst, hast du das auch schon gesagt ... Grüezi Frau Doktor, ich bin Annemarie Lacher-Banz, seine Frau, freut mich sehr!» « Das habe ich mir schon gedacht», sagte Dr. Bieberle seufzend und schaute zu Ruedi Banz, der einen flehenden Ausdruck in seinen Augen hatte.
ZWEITE STATION: NACH DEM ULTRASCHALL
Frau Lacher-Banz muss in den Warteraum
Annemarie Lacher-Banz war nicht zu stoppen. «Wissen Sie Frau Doktor, während ich am Schamponieren des Labradors war, ist mir noch in den Sinn gekommen, dass es da in Ruedis Familie eine Grosstante gab, die an einer Magenperforation gestorben ist ... sagte man damals, wer weiss, vielleicht war es ja auch eine Pankreatitis, ich habe das im Fall recherchiert, Frau Doktor ...»
Frau Dr. Bieberle sah vor sich auf ihre Notizen auf dem Klemmbrett und überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. «... das ist doch erblich, nicht wahr?! Ruedi, sag doch auch mal was, ich bin hier dauernd am Auskunft geben, die Frau Doktor muss doch wissen, wie es bei dir aussieht ...»
Ruedi Banz lag ergeben auf der Behandlungsliege und überlegte, ob seine Grosstante tatsächlich an einer Magenperforation gestorben war, die Unterscheidung zwischen Fantasie und Wirklichkeit gehörte nicht zu den Kernkompetenzen seiner Frau. «Vielleicht ist es ja ein Hundebandwurm!», entfuhr es ihm plötzlich viel zu laut, und er richtete sich auf. «Du bist doch dauernd um Hunde herum, das wäre doch viel wahrscheinlicher und ... und ein Hundebandwurm wäre ja noch viel schlimmer, oder Frau Doktor?»
«Es ist wie schon erwähnt, habe ich das schon erwähnt? ... egal. Eine Echinokkose ist sehr sehr unwahrscheinlich, ausserdem können wir eine solche über Antikörper zweifelsfrei nachweisen, steigern Sie sich bloss nicht in etwas hinein, Herr Banz, die Quelle von Bauchschmerzen kann weit ausserhalb des Bauches liegen, vom Herz über die Atemwege bis zur Psyche ...»
«Siehst du?!», schrie Annemarie Lacher-Banz triumphierend auf, «die Psyche!! Ich habe es dir doch gesagt, dann ist es eben doch ein ... wissen Sie Frau Doktor, mein Mann klagte in letzter Zeit immer wieder über Hitzegefühle, Schwäche, Angst und Konzentrationsstörungen, ja , und ich sag's nicht gerne, Verwirrtheit und sogar Aggressivität ...»
«Annemarie, bitte!», sagte Ruedi Banz leise und wollte, er wäre woanders. «Lass mich ausreden, Ruedi! Ich will der Frau Doktor ja nur Informationen geben, also eben und alle diese Symptome, vor allem dieser Heisshunger immer noch in der Nacht und dann den Käse nicht finden im Kühlschrank und dann rufst du mich immer, weckst mich, wo ist der Käse, das alles deutet doch eindeutig auf ein Insulinom, nicht wahr, Frau Doktor, das haben Sie sich sicher auch schon überlegt, ein Insulinom ...»
«Annemarie sei ruhig!», brüllte Ruedi plötzlich in höchster Lautstärke, «ich habe tierische Schmerzen und ertrage deine Stimme nicht mehr! Geh bitte sofort ins Wartezimmer und lass die Ärzte arbeiten!» «Aber Ruedeli, was ist denn los, du bist ja gar nicht du selbst, sehen Sie Frau Doktor, das meine ich mit verwirrt und aggressiv ...» «RAUS!», schrie Ruedi Banz mit feuerrotem Kopf. Annemarie Lacher-Banz schaute hilfesuchend zu Dr. Bieberle, die sorgfältig jeden Blickkontakt vermied, warf beleidigt den Kopf in den Nacken und verliess mit lautem Türenknallen das Behandlungszimmer.
«So», sagte Frau Dr. Bieberle mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht, «dann wird sie jetzt Schwester Banz ... lustig die Namensgleichheit ... Frau Banz wird sie jetzt gleich zum Ultraschall abholen, je nachdem machen wir auch noch ein CT und ein MRI. Vorher müssten Sie dann noch ein Spitalhemd anziehen, ihre Kleider können Sie dann in diesen Plastiksack verstauen, damit sie nicht verloren gehen.»
Rolle deine Matte zusammen und geh
«Die Röntgenbilder sind äusserst seltsam», meinte Dr. Denis Lipp, die Radiologin, die ziemlich empathiefrei mit Ruedi Banz über die Ergebnisse von Ultraschall, CT und MRI gesprochen hatte – Ruedi Banz hatte seltsame Kurven, Datenreihen und schwarz-weiss wabernde Innereien gesehen und nichts verstanden. «Sagen Sie mal, was haben Sie denn heute morgen gegessen?»
Ruedi Banz hatte geschwiegen, es war ihm peinlich gewesen, seine Fressorgie von letzter Nacht – er hatte ein ganzes Poulet vom Würstchengrill mit einer halben Tube Mayonnaise hinuntergeschlungen – vor der kühl und streng wirkenden Ärztin auszubreiten. Auf ein ängstliches Nachfragen von Ruedi Banz, ob sie denn aufgrund der Bilder schon etwas sagen könne, hatte ihn Dr. Lipp etwas missbilligend angeschaut und hatte dann gemurmelt, sie stelle hier keine Diagnosen, das überlasse sie Frau Dr. Lena Bieberle, die ja alle diese Untersuchungen angeordnet habe, wobei in ihrem Unterton deutlich herauszuhören war, dass sie von der Kompetenz von Dr. Bieberle nicht gerade begeistert war.
«Ich habe solche Angst», sagte Ruedi Banz leise zu den vorbeiziehenden Deckenlampen, als er eine halbe Stunde später auf dem Schragen wieder durch endlose Gänge gerollt wurde, im hinten offenen Spitalhemd, neben sich den Plastiksack mit seinen privaten Kleidern, womit gewissermassen seine spitalmässige Entpersonalisierung begonnen hatte. «Und ich verzweifle langsam an diesen Scheissschmerzen!»
«Wissen Sie eigentlich, heute ist Allerseelen», sagte Kimberley Banz-Awudome und schüttelte ihre blondierten Lockenkopf. Dass sie Banz hiess, obwohl sie aus Ghana stammte hatte zu einigen Fragen von Ruedi Banz geführt und erstaunlicherweise hatte es sich herausgestellt, dass Kimberley mit einem Cousin von Ruedi aus Nidwalden verheiratet war, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
«Ich bin ... ähm ...nicht sehr religiös», sagte Ruedi Banz und lächelte Kimberley an. «Willst du gesund werden, hat Jesus einmal einen Gelähmten gefragt», sagte Kimberley, und ihre Stimme hatte einen rythmischen Klang angenommen, «dann rolle deine Matte zusammen und steh auf, sagte Jesus zu ihm.» Kimberley lächelte Ruedi Banz zu. «Du hast den Schlüssel zur Lösung in deiner Hand!»
DRITTE STATION: DIAGNOSE GALLENSTEIN
Ruedi Banz schaute verwundert in die tiefschwarzen Augen von Kimberley, «Frau Doktor Lipp hat einmal etwas von echofreien Zonen erwähnt. Und ... und von Schallschatten ... wissen Sie, was ein Schallschatten zu bedeuten hat?» Kimberley Banz-Aduwome lächelte vielsagend. «In Ghana gehen die Menschen mit Bauchweh zu einem Heiler. Du kannst ihn auch mit einer Ziege bezahlen. Und wissen Sie, was das Beste ist: Man muss dem Heiler die Ziege erst bringen, wenn die Behandlung erfolgreich war! Also gut, es kommt auf den Heiler an», fügte Kimberley hinzu, als sie den zweifelnden Blick von Ruedi Banz sah. «Manche Heiler nehmen als Bezahlung auch dein Auto, dein Haus oder deine Frau! Im Voraus!» Kimberley lachte fröhlich und schob Ruedi Banz, in dessen Bauch der Schmerz unverändert sein Unwesen trieb, in ein Behandlungszimmer, wo sich mehrere Kojen befanden, die nur durch Tücher abgetrennt waren.
«Sie müssen leider jetzt hier wieder ein wenig warten, bis die Bilder freigegeben werden», sagte Kimberley, und das Mitgefühl in ihrer Stimme klang echt. Dann kommt Frau Dr. Bieberle und bespricht mit Ihnen die Ergebnisse. Ich habe jetzt Mittag, ich wünsche Ihnen alles Gute!» Kimberley gab Ruedi Banz die Hand. «Und vergiss nicht: Du hast den Schlüssel zur Heilung in deiner Hand! Wir sagen immer, wenn wir einen neuen Gläubigen für unsere Church gewinnen können, jetzt hat Jesus wieder ein neues Paar Augen, um zu sehen, ein neues Paar Ohren, um zu hören, neue Hände, um damit zu helfen und ein neues Herz, um andere zu lieben.» Die Augen von Kimberley waren jetzt dicht vor dem Gesicht von Ruedi Banz, der plötzlich spürte, wie er fror und dem das überhaupt alles ein wenig zu viel wurde.
«Ja, und vielleicht auch ein neuer Bauch, um andere damit zu spüren ... denn es ist doch der Bauch, mit dem wir spüren, vergessen Sie das nicht, Herr Banz, der Bauch ist das Zentrum der Gefühle!»
Der Elektriker muss kommen
Kurz nachdem Kimberley beschwingt lächelnd das Zimmer verlassen hatte, um weitere hilflose Opfer von der heilenden Wirkung der Religion zu überzeugen, bemerkte Ruedi Banz, dass er dringend mal musste. Aber es war keiner mehr da, den er hätte nach einer Toilette fragen können, und weil er nicht gerade ein mutiger Mensch war und ausserdem Angst hatte, in dem Spitalhemd würde man seinen nackten Hintern sehen, traute er sich nicht aufzustehen.
Die Koje neben ihm war belegt, er hörte, wie eine ältere Frauenstimme sagte: «Und weisch ich han soo Turscht gha, das chasch der gar nöd vorschtelle, da han ich dänn halt das Panache trunke und dänn namal eis. Und dänn han ich müesse go brünzle, das chasch du dir gar nöd vorschtelle ...» «Momoll chani scho», sagte eine jüngere Stimme, «nei chasch nöd, das glaubsch du jetzt nöd, ich han brünzlet und brünzlet und brünzlet und han immer na s Gfühl gha, ich heb e volli Blase!» «Ah, interessant», sagte die jüngere Stimme, «ja, und dänn han ich das em Dokter verzellt, do seit dä, das sölli ich nie meh mache, machet Sie das nie meh! Trinket Sie ja keis Panache, wüsssed Sie, Zitronelimonade und Bier zäme, das isch Gift für ihri schwachi blase, Gift!!» «Ah, isch wahr», bemerkte die jüngere Stimme und dann war einen Moment Ruhe. Zur grossen Erleichterung von Ruedi Banz, der vor lauter Harndrang fast seine Bauchschmerzen vergessen hätte, bertrat im selben Moment Frau Dr. Bieberle den Raum und rollte einen Leuchtkasten vor sein Bett.
«So, jetzt schauen wir uns zusammen die Bilder an, Herr Banz, Frau Dr. Lipp hat mir schon ein paar Hinweise gegeben ...» Frau Dr. Bieberle bückte sich, um einen Stecker einzustecken, «... so, dann sollte das jetzt funktionieren ...» Der Leuchtschirm blieb dunkel. Frau Dr. Bieberle kontrollierte nochmals den Stecker und fluchte dann leise vor sich hin.
«Tut mir sehr leid, Herr Banz, da scheint mal wieder der Leuchtkasten nicht zu funktionieren! Ich ... Scheisse, da nimmt keiner ab! Ich ... ich muss ... ich gehe gerade schnell selbst den Hauselektriker suchen, warten Sie doch bitte einfach noch einen Moment!» Dr. Bieberle stürzte völlig gestresst aus dem Behandlungsraum, sie wusste, dass Umberto Angelosanto, der Hauselektriker normalerweise um diese Zeit in der Cafeteria herumhing. Auf dem Weg zur Cafeteria verirrte sich Assistenzärztin Dr. Lena Bieberle, die noch nicht so lange im Nydeggspital tätig war. Sie landete schliesslich beim Hinterausgang der Inneren Medizin und musste um den ganzen riesigen Gebäudekomplex herum wieder zum Vordereingang hinein, was dazu führte, dass Ruedi Banz,weil er nun wirklich ganz dringend musste, sich alleine auf den Weg zu einer Toilette machte und irgendwann, völlig verzweifelt weil er nicht fündig wurde, sich in einer ruhigen Ecke des Korridors in den Topf eines riesigen Gummibaums erleichterte.
Gallenblasenstein
Eine halbe Stunde später war technisch alles wieder in Ordnung. Frau Dr. Bieberle, immer noch etwas gestresst von ihrer Odysse und leicht genervt von den routinierten Flirtversuchen des gutmütigen Hauselektrikers – Elektrisch ische wie mite Fraue, muesch wüsse wie funktioniert! – hatte Ruedi Banz einen längeren Vortrag über die Ergebnisse gehalten, hatte ihm erklärt, dass sie mit etwa 96%iger Wahrscheinlichkeit sowohl einen Stressulkus, mitsamt seinen schlimmeren Varianten bis hin zum Pankreaskarzinom als auch Nierenzyste und Gastritis ausschliessen könne, und dass deshalb ihre Diagnose klar sei.
Ruedi Banz beugte sich gespannt vor und vergass seine Schmerzen. «Es ist ein Gallenblasenstein, Herr Banz», sagte Dr. Lena Bieberle, und ein Hauch von Selbstzufriedenheit schwang in ihrer Stimme mit. «Nicht in den Gallengängen, sonst sähe es anders aus, da wären Ihre Schmerzen unerträglich ...»
«Ja, gut, mir reicht’s eigentich von der Stärke her», bemerkte Ruedi Banz leicht gereizt, «ich...» «Jaja, klar! Aber das ist jetzt nicht so wichtig! Viel wichtiger ist die Frage ...», Bieberles Stimme wurde eine Spur eindringlicher, wenn nicht dramatischer, «kommen Sie aus einer Gallenstein-Familie, Herr Banz?»
«Ähm, nein, eigentlich nicht, ich...wir kommen mütterlicherseits aus St.Gallen, aber ...», stotterte Ruedi Banz verwirrt. «Kein Problem, Herr Banz, ich beschreibe ihnen kurz die möglichen Konsequenzen eines Gallenblasensteins: also da hätten wir eine chronisch rezidivierende Cholezystitis, oder eine eitrige Cholangitis, also eine Entzündung der Gallengänge, eine sogenannte Schrumpfgallenblase, oder auch Porzellangallenblase, ein Gallenblasengangrän und schliesslich, worst case, die Perforation...»
«Ich ...», stotterte Ruedi Banz, «was kann man ...» «Aber», sagte Dr. Bieberle, und ihre Stimme wurde noch eine Spur ernster, «wir wissen jetzt, dass Sie einen Gallenblasenstein haben, damit ist jedoch keineswegs klar, dass die Schmerzen in ihrem Bauch daher stammen!» Ruedi Banz schaute Dr. Bieberle völlig schockiert an. «Sie meinen, dass..,» «Dass wir noch längst nicht alles wissen, Herr Banz. «Aber jetzt machen wir erst mal eine Pause. Ich darf meine Diagnose nicht alleine fällen. Ich muss jetzt noch – das sind die Vorschriften – Herrn Dr. Gysi konsultieren, er kann Ihnen dann vielleicht Genaueres sagen.»
VIERTE STATION: DER OBERARZT KORRIGIERT
Morbus Samstag
Es war gerade 12 Uhr, als Ruedi Banz zum dritten, wenn nicht zum vierten Mal abgetastet wurde. Ruedi Banz war sich da nicht mehr so ganz sicher, für ihn war es schon eine halbe Ewigkeit, dass er hier im Nydeggspital hin und hergeschoben wurde. Diesmal war es in der Präsenz von Dr. Lena Bieberle und der äusserst liebenswürdigen Oberschwester Evi Schwaller, der Oberarzt Dr. Kuno Gysi, ein ehrgeiziger Berner Gastroenterologe, der grundsätzlich nur in abgehackten Halbsätzen sprach und in der Kommunikation mit den Patienten noch unsensibler war als die Radiologin Dr. Lipp. Er war der Typ Arzt, der sich im Spital an sich sehr wohl fühlte, wären da nicht die Patienten mit ihren – den Betrieb eher störenden – Problemchen und Wehwehchen. Ausserdem hielt Dr. Kuno Gysi von der fachlichen Kompetenz von Dr. Lena Bieberle fast gar nichts und war fest entschlossen, das bei der Diagnose von Ruedi Banz zu beweisen.
«Wie ist der Schmerz», fragte er, «spitz?»
«Ähm...ja ...», sagte Banz unsicher.
«Oder stumpf?»
«Auch, irgendwie», sagte Banz hilflos. «Aber das habe ich doch alles schon einmal gesagt ... Ich dachte, ich habe einen Gallenblasenstein, Frau Dr. Bieberle hat...»
«Frau Dr. Bieberle hat eine Hypothese geäussert, Herr Banz. Ich will wissen, ob der Schmerz überhaupt zu einem Gallenblasenstein passt. Verstehen Sie!? Kolikartig? Und die Temperatur des Schmerzes? Heiss? Kühl?! Beschreiben Sie den Schmerz!»
Während an ihm herumgedrückt wurde, versuchte Ruedi Banz verzweifelt, seinen Schmerz selbst zu interpretieren und in Bilder zu fassen, vergeblich. Gleichzeitig spürte er, wie er der manipulativen Suggestivwirkung der Gysi’schen Fragerei völlig erlag und sich dabei ertappte, wie er eifrig bestätigen wollte, dass Dr. Gysi richtig lag, einfach weil er endlich ein Ergebnis wissen wollte, das seine wiederaufkeimenden Ängst beruhigen konnte. So rutschte sein Schmerz, je nach den Handbewegungen und den Fragen von Dr. Gysi, immer mehr von rechts oben nach links unten und dann wieder leicht zur Mitte, um sich irgendwann im gesamten Abdominalbereich auszudehnen und dabei noch gürtelartig in den Rücken auszustrahlen.
Dr. Gysi ist auch Handballer
Dr. Kuno Gysi war hochzufrieden. Vor dem Patienten gab er der Assistenzärztin ein herablassendes Teaching über den Mangel von gewissen Diagnosetechniken gegenüber der Erfahrung, kritisierte vor allem, dass sie Ultraschall, CT und MRI angeordnet habe. «Ultraschall hätte völlig gereicht! Kleine Amortisationstherapie gemacht, was? Oder läuft das unter ‹Jugend forscht›, Frau Dr. Bieberle?! Wieso können Sie 100%ig eine Pankreatitis oder sogar ein Karzinom ausschliessen? Oder ein Insulinom?»
Banz erbleichte, das hatte doch seine Frau schon erwähnt. Gysi geriet jetzt in Fahrt. «Die Diagnose lautet weiterhin ‹unklare Bauchschmerzen›, Frau Dr. Bieberle! Wir machen eine Endoskopie mit anschliessender Biopsie. Damit wir alles ausschliessen können. Das können Sie dann alles live auf dem Bildschirm verfolgen, Herr Banz, allerdings müssten wir damit noch etwa fünf Stunden warten, bis Ihr Magen völlig entleert ist ...»
Während Dr. Gysi dem armen Banz weiterhin das Prozedere einer Endoskopie erklärte, arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren. Es gab nämlich ein kleines Problem. Dr. Gysi war begeisterter Handballer, Handball war seine ganz grosse Leidenschaft, er liebte diesen Sport fast mehr als seinen Beruf und sicher mehr, als den Umgang mit lästigen Patienten – und es war jetzt genau halb eins. Um drei Uhr startete ein wichtiger Match der dritten Mannschaft des HC Mühleturnens, bei denen Gysi im Tor stand. Schon einmal hatte Dr. Gysi, als man ihm die Teilnahme an einem Handballspiel aus organisatorischen Gründen verweigert hatte, ausgerufen: Ich kündige sofort, wenn ich nicht die Erlaubnis kriege, auf sinnvolle Art und Weise meinen Ausgleichssport auszuüben!
Dr. Gysi war nicht dumm. Er wusste natürlich, dass Dr. Bieberle mit ihrer Diagnose völlig richtig lag, dass Banz auf jeden Fall nichts Schlimmeres hatte als einen Gallenblasenstein, er hatte ihr nur kurz zeigen wollen, wo der Bartli den Most holte. Andererseits durfte er sich auf gar keinen Fall jetzt selbst ein Bein stellen. Die Endoskopie um fünf Uhr würde seine Handballpläne gründlich zunichte machen. Es blieb nur eine einzige Chance: die Therapie, die unter Ärzten den banalen Namen «Abwarten» trug, vermutlich eine der wichtigsten und effektivsten Therapien überhaupt. Dr. Gysi war Meister in dieser therapeutischen Disziplin.
Die idiopathisch-funktionelle Störung
«Andererseits», sagte er mit wichtiger Miene zu Ruedi Banz, «andererseits ist gerade bei essentiell idiopathisch-funktionellen Störungen wichtig ...» Frau Dr. Bieberle hob ihre Brauen, sie wusste genau, dass dies eine Umschreibung der Tatsache war, dass ein Arzt keine Ahnung hatte, was ein Patient litt, wollte etwas sagen, verstummte dann aber wieder. «... ist Folgendes von entscheidender Wichtigkeit: Ruhe bewahren. Nichts überstürzen. Sie möchten ja sicher auch noch ein wenig übers Weekend zu ihrer Familie nach Hause, Herr Banz? Wissen Sie was, wir warten die Entwicklung ab und machen die Endoskopie am Dienstag!» Gut, dachte, Dr. Gysi, super gemacht, Moment, da waren natürlich die Schmerzen ...
«Was ist mit meinen Schmerzen, werden Sie mich gleich fragen», sagte Dr. Gysi, noch bevor Banz etwas sagen konnte. «Da gibt es heute hervorragende Mittel, kein Problem!» Frau Dr. Bieberle kochte innerlich. Sie durchschaute natürlich die Strategie von Dr. Gysi und versuchte ihren Erfolg zu verhindern, ohne Gysi blosszustellen und sich damit selbst in Gefahr zu bringen.
«Ähm ... ist das nicht gegen die Regeln, Herr Kollege Gysi, wenn ich mir erlaube...»
«Regeln und Knochen, gehören gebrochen!», sagte Dr. Gysi und lachte dröhnend. «Ist von Fettes Brot. Nicht von den Ärzten!! Haha! Kleiner Scherz! Hab ich gerade gestern gehört. Auf SRF 3. Kennen Sie Fettes Brot? Sie sind doch noch jung, Frau Dr. Bieberle!? Also von der Erfahrung her, auf jeden Fall!! Haha!»
«Ich höre mehr Weltmusik, keltisch-irische Sachen», sagte Dr. Bieberle und wurde rot.
«Ah klar. Das passt! Haha! Also Herr Banz, Sie gehen nach Hause, machen sich ein schönes Wochenende und kommen am Dienstag wieder ...»
Oberschwester Evi Schwaller, die bereits mehrmals versucht hatte, sich mit Räuspern bemerkbar zu machen, flüsterte jetzt halblaut: «Herr Doktor!! Herr Doktor!!» Und als Gysi sich schliesslich unwillig zu ihr umdrehte, sagte sie laut: «Der Patient ist PRIVAT versichert!» Dr. Gysi erstarrte für einen Moment, riss ihr dann die Patientenakte aus der Hand und nach las, worauf ihm ein deutlich hörbares «Scheisse!» entfuhr. Dann drehte er sich zu Ruedi Banz um. «Es tut mir sehr leid, Herr Banz, wir haben unsere Vorschriften. Bei Privatpatienten lautet unser Sicherheitsstandard, dass ich bei einer solchen Diagnose noch den Chefarzt Prof. Dr. Glanzmann konsultieren muss!»
FÜNFTE STATION: DER CHEFARZT
Ruedi Banz wartete auf den Chefarzt. Er fror jämmerlich und war am Rande der totalen Erschöpfung. Wieder war der Ausgang der Dinge völlig unklar, immer noch konnten die Bauchschmerzen eine schlimme oder gar lebensgefährliche Ursache haben. Ruedi sehnt sich nach seiner Frau, trotz ihrer logorrhöischen, besserwisserischen Art wäre sie ihm jetzt eine grosse Hilfe gewesen. Aber wahrscheinlich war sie längst beleidigt nach Hause gefahren oder in den verdammten Hundesalon, er konnte sie nicht anrufen, sein Handy war in der Tasche seiner Hose und wo seine Hose war, hatte er keine Ahnung.
Weil die Schmerzen, bedingt durch das Schmerzmittel, etwas nachgelassen hatten, schlief Ruedi Banz schliesslich ein und wurde gefühlte drei Sekunden später durch laute Geräusche geweckt. Als er die Augen öffnete, sah er nur einen schwarzgewandeten Hintern, der irgendwie unter seinem Bett beschäftigt war. Dann richtete sich der Hintern auf und ein kleines rundliches Gesicht mit Damenbart kam zum Vorschein. «Darf ich miche vorstelle? Mafalda Vernandez, ich bine Putzfrau», sagte die kleine zierliche schwarzgekleidete Person, «Sie Ärmste sinde ganz alleine da inne! Iste Ihnen nichte langweilig?»
Die Vorteile der Endoskopie
«Doch, schon ein wenig, danke der Nachfrage», sagte Ruedi Banz, der Frau Vernandez sofort in sein Herz geschlossen hatte. «Aber vor allem habe ich Angst vor dem, was kommt! Wissen Sie, ich muss vielleicht eine Endoskopie machen! Wissen Sie, was das ist?»
«Ja iche kann! Und ich bitte Sie: Bitte bitte machen Sie Endoskop!! Unbedingt! Iche kann Ihne eine Geschichte erzählen von eine Endoskop mit meine Mann ... möchten Sie hören?» Ohne Ruedi Banz’ Antwort abzuwarten, legte Mafalda Vernandez ihr Wischgerät zur Seite und setzte sich auf sein Bett. «Mein Mann, er musste Medikament für Herz nehmen und dann am nächste Morgen, plötzlich er hatte starke Blutungen in die ... auf die Toilette, Sie verstehe? Und niemand hat etwas gewusst, was ist, und er hatte auch Schmerzen und dann hat man gemacht Endoskopie unde ganz hinten bei die Blinde Darm man hat gefunden eine Stück Plastik, ganz scharf von die Verpackung von die Pille! Hatte geschnitten! Und ...», Mafalda begann plötzlich zu schluchzen, «... und es war meine Schulde!! Ich habe falsch ubersetzt die Text zu die Pille, habe ich gesagt, musst du UNVERÄNDERT SCHLUCKE, und er atte unveränderte geschluckt mit die Verpackung!! Und iste fast gestorbe! Wege mir!!» Mafalda Vernandez schluchzte jetzt hemmungslos. Ruedi Banz legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schultern, bis sie sich gefasst hatte.
«Aber wissen Sie, ist noche nichte Ende von Geschichte! Weil am Ende von die Endoskopie man hatte gefunden ein böse Krebs! Sehr böse, aber noche ganz klein, verstehen Sie, man könnte ausschneiden! Unde alles war gut ... ich ... ich habe ihm Leben gerettet, verstehen Sie! Iche unde die Endoskopie!» Wieder schluchzte Mafalda Vernandez hemmungslos, aber dann fasste sie sich und ihre Gesichtszüge verhärteten sich. «Aber wissen was, Herr Banz? Dann, eine Monat später, ist ere durchgebrannte mit eine brasilianische Tänzerin! Una butana! Lebte jetzt in Acapulco! Das Schwein! Und dafür ich habe ihn das Lebe gerettet ...»
Mafalda Vernandez legte ihren Kopf an die Schulter von Ruedi Banz und hätte vermutlich wieder angefangen, hemmungslos zu weinen, wäre nicht in diesem Augenblick die Türe des Behandlungszimmers aufgerissen worden.
Anatomische Normvarianten und FFFF
Prof. Dr. Nico Glanzmann war leitender Chefarzt der Gastroenterologischen Abteilung des Nydeggspitals und anerkannter Facharzt für Viszeralchirurgie. Er war grossgewachsen, blond mit leicht angegrauten Schläfen und Widerspruch nicht gewohnt. Hinter ihm her wieselten Oberarzt Dr. Kuno Gysi und Assistenzärztin Dr. Lena Bieberle herein. Ausserdem begleitete ihn wie eine Art Schatten oder Sklavin, je nach Sichtweise, seine ehrgeizige und ungewohnt attraktive Privatassistentin, Saskia Kaltwasser, eine verspannte 34-jährige Berlinerin mit perfekt sitzender Pagenfrisur.
«Tag Herr Banz! Also: Sie haben einen Gallenblasenstein, soviel steht fest, da muss ich gar nicht mehr an Ihnen herumdrücken ...»
«Ah gut! Das hat Frau Dr. Bieberle auch schon gesagt, dann hätte ich nicht ...», wollte Ruedi Banz schon leicht empört und zugleich erleichtert loslegen, verstummte dann aber, weil er den eisigen Blick von Oberarzt Dr. Kuno Gysi bemerkt hatte. Saskia Kaltwasser liess ein kleines Hüsteln hören und ordnete ihre perfekt sitzende Pagenfrisur, eine peinliche Situation bahnte sich an, die aber vom Chefarzt natürlich souverän gemeistert wurde.
«Ja, Herr Banz, das sind ganz normale Vorgänge bei einer differenzierten Diagnose! Es ist eben so: Gallenblasensteine sind normalerweise typisch für einen bestimmten Typ Frauen. Dieser Typ, wenn ich das mal sozusagen populärwissenschaftlich ausdrücken darf, ist quasi Gegenmodell zur anatomischen Normvariante, wie es Frau Dr. Bieberle vorweisen kann.» Der Chef grinste selbstgefällig und blickte kurz zu Dr. Bieberle, die seit dem letzten Spitalfest genau wusste, dass der Chef auf sie stand, der die unmissverständlich verklausulierte Anmache aber höchst peinlich war.
«... dieser Frauentyp heisst bei uns FFFF, Forty Fat Fecund Female, Sie verstehen ja Englisch, Herr ... äh ... Banz. Haha! Also ...», der Chef blickte gönnerhaft in die Runde, «Seien Sie froh, dass wir so ein ausgeklügeltes Diagnosesystem haben! Ich wiederhole: Sie haben einen Gallenblasenstein. Und der muss dann sowieso mal raus, wenn Sie verstehen, was ich meine!»
Ruedi Banz blickte etwas unsicher in das stoisch dreinblickende Gesicht von Dr. Lena Bieberle und dann zum Pokerface von Dr. Kuno Gysi. «Und jetzt kommt‘s: Sie haben Glück!! Wir könnten diesen Stein nämlich gerade jetzt heute Nachmittag schnell ...», Prof. Glanzmann schaute auf die IWC an seinem braungebrannten Handgelenk, «wir haben da nämlich gerade ein Zeitfenster ... Saskia? ... Oder nicht?»
Saskia Kaltwasser checkte kurz den Terminkalender, räusperte sich und sagte dann mit wichtiger Stimme: «Morgen haben Sie das Referat am Gastorenterologenkongress in Baden Baden. ‹Hämmorrhoiden – verschwiegen und verwünscht.›»
«Oh verflucht! Da muss ich noch dran arbeiten», sagte Prof. Glanzmann, wobei er damit sagen wollte, dass er das Manuskript des Studenten durchsehen musste, der es für ihn schreiben musste. «Schade!», sagte Prof. Glanzmann, was ehrlich gemeint war, denn er operierte leidenschaftlich gerne. «Dann müssen Sie das übernehmen, Gysi! Kein Problem für Sie, oder?!»
«Absolut nicht!», quetschte Dr. Gysi hinter schmalen Lippen hervor. «Wobei, was ist mit den Polypen auf Zimmer 134?» «Die können warten», fegte Ganzmann den Einwand hinweg, «Polypen können immer warten! Die laufen ja nicht weg, nicht wahr Herr Banz!? Haha! Also, Sie werden sehen, kleiner Eingriff, in zwei Tagen sind Sie wieder zu Hause ... oder möchten Sie lieber drei Tage warten?»
«Neinneinnein!!» rief Ruedi Banz, der wollte, dass endlich endlich etwas geschah, etwas zu laut und krümmte sich wieder.
SECHSTE STATION: OPERATION GALLENSTEIN
Nun galt es plötzlich ernst. Alles beschleunigte sich. Als Dr. Bojan Drascovic, der Anästhesist, ihn über die möglichen Risiken einer Narkose aufklärte – jede Narkose beinhaltet ein letztes Restrisiko, Herr Banz! – bekam Ruedi Banz plötzlich Herzrasen und musste Atemübungen machen, um sich wieder zu beruhigen. Als er sich soweit gefasst hatte, war Oberschwester Evi Schwaller, die sich schon den ganzen Tag immer wieder aufopfernd um ihn gekümmert hatte, plötzlich verschwunden. An ihrer Stelle erschien Malina Rosic, eine grobknochige Kroatin, die ihn mit der Frage: «Müssen Sie in Gipszimmer?» erst mal gehörig verunsicherte. Sie erklärte ihm, er müsse jetzt noch Uhr und eventuelle Zahnprothesen ausziehen, und Ruedi Banz kam sich vor, wie vor einer Hinrichtung. Leider hatte er sich tatsächlich vor ein paar Jahren aus Spargründen eine abnehmbare Einzelzahnprothese machen lassen.
«Na sehän Sie!», sagte Frau Rosic und lächelte diabolisch. «Hätten Sie besser gemacht eine Implantat in Belgrad. Nur 980 Euro. Noch billiger als Ungarn. Und kriegen Sie dazu noch eine gestohlene Auto. Und eine Frau! So, jetzt sie kriegen von mir ein Mittel zur Beruhigung, damit Sie keine Angst vor der Narkose bekommen!»
Dormicum
Vielleicht war es auf die Wirkung des Dormicums zurückzuführen, vielleicht war es die Angst: auf dem Weg zum OP durch Gänge und verschiedene Lifte hatte Ruedi Banz seltsame Halluzinationen. Im einem der Lifte gab es Kunst am Bau, seltsame Stalaktiten hingen von der Decke einer surreal wirkenden Tropfsteinhöhle, und Banz musste dabei an das Innere seines Magens denken. Dann musste er, schon halb belämmert, im grell ausgeleuchteten Vorraum des OPs auf das Operationsbett klettern, wobei alle seine nackte Rückseite sehen können, er hört irgendwo jemanden rufen: «Scheisse! Chef machen noch Gallenblase, ich wollte ins Kino!»
Dann wird er mit Gurten festgezurrt, er bekommt Panik und will weg, ist aber wie gelähmt, der serbische Anästhesist erscheint plötzlich über ihm und schiebt ihn in den OP, er fragt ihn, ob er lieber Erdbeer oder Green Apple habe, er kann nicht sprechen, der Chefarzt kommt vorbei, begrüsst ihn und sagt etwas Unverständliches, das auf «gut» endet, er weiss immer noch nicht, ob er Erdbeer oder .... da legt ihm Dr. Drascovic die Atemmaske aufs Gesicht, plötzlich riecht es wie im Obstgarten seiner Grossmutter in ... und dann taucht er weg, und schon ist er in einem wilden Traum, bei dem er wie in Zeitlupe durch eine fleischfarbene Höhlenlandschaft schwebt, in dem es nach faulen Äpfeln riecht. Plötzlich bemerkt er, dass die weichen feuchtglitschigen Wände sich konvulsivisch zusammenziehen, und er weiss, er muss unbedingt raus, weil diese Höhle sich immer weiter zusammenziehen wird und ihn zu erdrücken droht.
Und dann ist da auf einmal ein Licht, ein Ausgang, aber davor steht eine schwarzgekleidete Gestalt, schwarz auch die Haut, es ist eine Mischung aus Mafalda Vernandez und Kimberley Banz-Awudome, die Gestalt versperrt ihm den Ausgang und streckt ihm einen Topf Honig entgegen und in der anderen Hand einen Schlüssel und eine unheimlich hallende Stimme ruft: «Willst Du gesund werden?» Und schon will er den Schlüssel nehmen, da verwandelt sich der herausfliessende Honig in einen gigantischen honigfarbenen schillernden Stalaktiten, der sich aufbläht und immer weiter wächst, ein gewaltiger honiggelber Gallenstein, der auf ihn zukollert und ihn unter sich begräbt ...
Der Stein ist weg, die Schmerzen bleiben
Als Ruedi Banz zum ersten Mal kurz aufwachte, stellte er als erstes fest, dass die alten Schmerzen immer noch da waren. Dazu gekommen war jetzt noch ein leises, unheilverkündendes Ziehen in der rechten Bauchhälfte. Die beiden Schmerzempfindungen überlagerten sich auf unangenehme Weise und Ruedi Banz wollte sich gerade aufrichten, um irgendwie gegen diese Ungerechtigkeit zu protestieren, da beugte sich der graumelierte Schädel von Professor Glanzmann über ihn.
«Alles bestens gegangen, Herr Banz, ich gratuliere Ihnen! Wir haben den Übeltäter!» Prof. Glanzmann hielt Ruedi Banz ein gelbliches Etwas unter die Augen. Banz wollte etwas sagen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus.
«Tipptopp! Wie geht es Ihnen jetzt? Immer noch Schmerzen, klar, aber Sie werden sehen, in ein paar Tagen ist alles gut, ein wenig Geduld müssen Sie aber schon noch haben, also, alles Gute, Herr Banz ich ...» Ruedi Banz hätte schon längst noch etwas sagen wollen, aber der Chef war schon nicht mehr da, und er dämmerte wieder weg.
SIEBTE STATION: DIE SPITALPSYCHOLOGIN
Die Korea-Methode
Als Ruedi Banz seine Augen nach einer gefühlten Ewigkeit oder Sekunde öffnete, je nachdem, beugte sich ein feingeschnittenes fernöstliches Gesicht über ihn und fragte: «Wie geht es Ihnen, Herr Banz?»
«Wo ist meine Frau?», fragte Ruedi Banz mit heiserer Stimme, «können Sie bitte meine Frau anrufen?»
«Das haben wir schon getan, Herr Banz!», sagte Hilfsschwester Kim Chwang-he. «Ihre Frau ist auf dem Weg hierher, aber sie ist im Stau steckengeblieben ... Allerseelen, Sie wissen, so viele Walliser Katholiken mit Autos!»
Ruedi Banz stiess einen leisen Schrei aus und krümmte sich zusammen. Der Schmerz hatte ihn nicht verlassen! Er kam ihm vor, wie ein böser, aber treuer Begleiter, der von nun an bei ihm bleiben würde bis in den Tod. Ruedi Banz begann leise zu weinen, die Tränen liefen ihm über die Backen und irgendwann schüttelte es ihn am ganzen Körper. «Es tut mir leid, es ist mir so peinlich ...», schluchzte er, «dieser Schmerz soll weggehen ... ich will, dass dieser Schmerz weggeht!»
«Das muss Ihnen doch nicht peinlich sein, Herr Banz, ich bitte Sie! Wissen Sie, in Korea sagt man, wenn ein Schmerz nicht weggeht, musst du den Schmerz zu deinem Freund machen.»
«Aber ich WILL keinen solchen Freund!», schrie Ruedi Banz verzweifelt. Kim Chwang-he betrachtete ihn voll Mitgefühl. «Vielleicht ist da noch etwas in Ihnen, das heraus möchte. Kennen Sie die koreanische Methode? In Korea es gibt viele Ärzte, die operieren ohne Narkose, nur mit den Händen gehen sie hinein und holen böse Geschwüre heraus, auch Gallenblasensteine.»
«Um Gotteswillen», stöhnte Ruedi Banz und biss die Zähne zusammen, «lassen Sie mich bloss mit diesen Horrorgeschichten in Ruhe! Da ist doch alles nur Hokuspokus! Geschäftemacherei!»
«Und geht’s gut?», tönte eine kräftige optimistische Stimme neben ihm. «Darf ich mich vorstellen: Dr. Thilo Knochenhauer, ich bin ihr neuer Abteilungsarzt.»
«Hören Sie mal», sagte Ruedi Banz aufgebracht, «gar nichts ist gut, die Schmerzen sind unverändert!»
«Darf ich mal, Herr Banz», sagte Dr. Knochenhauer aufmunternd und wollte Ruedi Banz den Magen abtasten. «Nein!!», schrie Banz, «jetzt reicht’s Herr Fleischhauer!! Das ist jetzt das fünfte Mal, das mir jemand an den Bauch langt und bis jetzt hat es nichts gebracht!! NICHTS! Ausser dass ich jetzt noch eine Operationsnarbe habe!»
«Der Gallenstein hätte sowieso irgendwann raus müssen, das wissen Sie Herr Banz», sagte Knochenhauer, «und mein Name ist Knochenhauer. Ausserdem wurde Ihnen gesagt, dass der Gallenstein zwar raus muss, aber nicht unbedingt die Ursache der Schmerzen ist!»
«Ja und?! Was wollen Sie damit sagen!? Dass Sie nichts mehr für mich tun können, oder was?» Banz schrie jetzt richtiggehend.
Dr. Thilo Knochenhauer stand seufzend auf. «Wissen Sie was, Herr Banz, das hat keinen Sinn, ich schicke Ihnen einen Spezialisten!» Und bevor Ruedi Banz noch etwas sagen konnte, war Dr. Knochenhauer durch die Türe verschwunden.
Spitalpsychologie
Die Spezialistin kam zehn Minuten später, als Ruedi Banz schon wieder erschöpft eingenickt war. Sie hiess Miranda Liebi und war die Spitalpsychologin. Nach anfänglichem Sichsträuben – wollen Sie mich jetzt für verrückt erklären? – ergab sich Ruedi Banz seinem Schicksal und begann, Frau Dr. Liebi ein paar wichtige Dinge aus seinem Leben zu erzählen. Etwa die Geschichte mit dem Stress an seiner Arbeitsstelle. Nach etwa 20 Minuten stellte Frau Lic. Phil. Miranda Liebi dann die entscheidende Frage: «Herr Banz, können Sie sich noch ganz genau erinnern, was da vorher passiert war, als der Schmerz damals an jener Sitzung so richtig einsetzte, als der Schmerz sie überfiel?»
Ruedi Banz überlegte einen Moment, schloss kurz die Augen und erzählte dann alles. Er hatte schon länger den Verdacht gehabt, dass seine Frau ihn betrog. Sie war immer so lange in ihrem verfluchten Hundesalon und konnte nicht genau erklären, was sie da noch so lange machte, und dann, am Abend vor der fatalen Vertretersitzung, war er früher als geplant nach Hause gekommen und hatte per Zufall ein Telefongespräch seiner Frau belauscht.
«Jimmy. Er heisst Jimmy», sagte Ruedi Banz ganz leise. Und dann sagte er nichts mehr. «Wer ist Jimmy?», fragte Miranda Liebi nach einer kleinen, aber, wie sie aus jahrelanger Berufserfahrung wusste, entscheidenden Pause.
Jimmy
«So heisst er ... ihr ... Liebhaber», murmelte Ruedi Banz und wurde rot. Er schämte sich auf einmal, sein männliches Totalversagen vor dieser Frau auszubreiten, die er gerade mal 20 Minuten kannte, und die ihn, noch schlimmer, an seine erste ernsthafte Freundin erinnerte, die ihn für einen französischen Freejazzmusiker verlassen hatte, was zu den besonders schmerzhaften Katastrophen im Leben von Ruedi Banz gehörte.
Miranda Liebi wartete wieder ein wenig und stiess dann sachte weiter vor auf diesem langsamen, vorsichtigen Gang durch das emotionale Minenfeld dieses ihr keineswegs unsympathischen Auspuffvertreters.
«Ja?», sagte sie und versuchte, jeden Anklang von purer Neugier aus ihrer Stimme zu verbannen. «Zuerst habe ich ihre Stimme gar nicht erkannt! Sie sprach so anders, so ... so zärtlich ...» Die Stimme von Banz erstickte. «‹Jimmy›, sagte sie, ‹Jimmy, Jimmy, Jimmy, sei doch nicht traurig, ich bin doch bald wieder bei dir ... Jimmely, Schätzli, Jimmyschnuckeli, Jimmytimmy, dann kraule ich dich ... gell, und du darfst mich ...›» Ruedis Stimme brach ab, er hatte einen Hustenanfall, räusperte sich dann und konnte endlich weitersprechen: «‹Jaaa du darfst mich dann auch .... lecken ... Jimmelytimmely› ... und ... und ich merkte schon da, wie sich alles in meinen Eingeweiden zusammenzog, wie mir kalt wurde im Magen, im Bauch. Eiskalt. Ich ... Und dann am nächsten Tag kam dieser Schmerz ...»
Eine Weile sagte niemand etwas. Ruedi Banz fixierte starr einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Miranda Liebi war hin- und hergerissen, einerseits zwischen dem Gefühl, als Spitalpsychologin wieder einmal einen absoluten Volltreffer gelandet zu haben, einen Erfolg, der ihr auch helfen würde, ihre von gewissen Ärzten ständig nur belächelte Position im Nydeggspital zu stärken. Und andererseits war sie echt bewegt, hatte grosses Mitgefühl und eine Art von tiefem Respekt für diesen Mann, der seine Frau so sehr liebte, obwohl sie ihm offensichtlich das Leben sehr schwer machte. Leider hatte Miranda Liebi bei aller Erfahrung absolut keine Ahnung, wie sie Ruedi Banz nun weiterhelfen sollte.
Gerade als sie den Mund öffnete, um dem armen Ruedi Banz diese katastrophale Erkenntnis in irgendeiner sozial verträglichen Form mitzuteilen, wurde die Türe aufgerissen und Annemarie Lacher-Banz stürzte herein.
«Schätzli Ruedeli, es tut mir sooo leid, dieser Verkehr heute war absolut schlimm und ich musste vorher noch nach Muri, weisst du, zu Frau von Wurstenberger, die gerade heute morgen, du, ich habe dir doch erzählt, sie hat diesen Wurf Königspudel und der Vater akzeptiert die Welpen nicht, ganz ganz schlimm! Aber wie geht es dir, Ruedi, hast du’s überstanden? Es tut mir so leid, dass ich nicht da war, aber gell, ich meine du hast mich ja auch weggeschickt ... ah grüezi Frau ... ähm ... ich bin Annemarie Lacher-Banz, die Frau von Ruedi und Sie sind?»
«Liebi», sagte Frau Liebi, «Spitalpsychologin ...»
«Ui nein, Ruedi, was ist denn, siehst du ich habe dir gesagt, dass du ...»
«Können wir schnell unter vier Augen sprechen, Frau Lacher ... bitte?»
«Gerne!» ,sagte Annemarie Lacher-Banz, sie schaute von ihrem Mann zu Frau Liebi und dann wieder zu ihrem Mann, der immer noch den imaginären Fluchtpunkt an der Wand anstarrte und plötzlich bekam sie Panik. «Was ist denn los?! Sie können es mir auch gleich hier sagen, mein Mann und ich haben keine Geheimnisse voreinander ...»
«Da bin ich mir eben nicht so sicher», sagte Frau Liebi etwas lauter und erschrak selbst über ihren eisigen Unterton. «Wer ist Jimmy, Frau Lacher?»
Annemarie Lacher-Banz war sprachlos, was bei ihr nicht sehr häufig vorkam. «Wie was? Wer Jimmy ist?! Was soll denn diese Frage!? Also, wenn Sie den Jimmy meinen, das ist der Golden Retriever von Frau Sägesser, einer langjährigen Kundin von mir. Jö, der Jimmy, ja das ist ein schwieriger Fall, Frau Sägesser kam vor etwa vier Wochen ...» Ruedi Banz schaute seine Frau mit offenem Mund an und war wie gelähmt.
«Sie meinen, das ist ein Hund??! Jimmy ist ein Hund?!», fragte Miranda Liebi und spürte, wie ein völlig deplatzierter Lachanfall in ihr hochstieg.
«Ja, Sie, und was für einer! Ein Problemhund! Und das ist noch eine Untertreibung! Aber sooo ein Schatz! Wissen Sie ... hat Ihnen mein Mann das nicht erzählt, vor einem halben Jahr habe ich meinem Hundesalon eine hundepsychologische Praxis angegliedert. Wissen Sie, die Hundepsychologie kann eben helfen, die Hilferufe eines Problemhundes zu entschlüsseln ...»
«Denk daran, der Schlüssel zur Lösung liegt in DEINER Hand», dachte Ruedi Banz, völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
« ... ja und den Jimmy, das ist jetzt hochinteressant, den Jimmy, weil der so schwierig war, habe ich den eben auch am Telefon behandelt, ja da haben wir einfach bei den Sägessers zuhause auf Lautsprecher gestellt, und ich habe mit ihm geplaudert ... ja, stundenlang, sage ich Ihnen, das hat ja Freud übrigens auch schon gemacht, Analysen am Telefon, haben Sie das gewusst, Frau Liebi? Wissen Sie, als Hundepsychologin kann ich eben nach einer gründlichen Anamnese und der richtigen Diagnose die Verhaltensauslöser für Ängstlichkeit, Unsauberkeit, oder ...»
«Bitte hör auf, Annemarie!! Ich will Worte wie Anamnese NIE MEHR HÖREN! Bitte Annemarie, hör doch einfach einen Moment auf, zu reden!», sagte Ruedi Banz und war zugleich so erleichtert wie nie in seinem Leben. Er sah zu Dr. Miranda Liebi, die versonnen lächelnd auf ihr Klemmbrett starrte und spürte im selben Moment, wie der Bauchschmerz nachliess.