Angefangen hat alles in den späten 1970er-Jahren, und zwar in der damaligen Tschechoslowakei. Die Serie «Nemocnice na kraji města» (deutsch: «Das Krankenhaus am Rande der Stadt») erzählte Geschichten rund um eine orthopädische Spital-Station in der fiktiven Stadt Bor. Dabei wurden nicht nur medizinische Schicksale erzählt, sondern auch zwischenmenschliche Probleme innerhalb der Ärzteschaft aber auch mit den Patienten thematisiert. Ein Novum. Damit ging «Nemocnice na kraji města» als Mutter aller Spitalserien in die Fernsehgeschichte ein.
Ein Heimatfilm im Spital
Es dauerte nicht lange, bis Fernsehproduzenten im Westen dieses osteuropäische Konzept übernahmen. So entstand in Deutschland eine der erfolgreichsten Fernsehserien – die «Schwarzwaldklinik». Insgesamt produzierte das ZDF 70 Folgen, die wöchentlich von bis zu 28 Millionen Fernsehzuschauern – das entspricht einem Markanteil von sagenhaften 60 Prozent – verfolgt wurden.
Auch in der «Schwarzwaldklinik» spielten die medizinischen Probleme nur eine Nebenrolle. Vielmehr ging es um die Liebe von Professor Klaus Brinkmann zur Krankenschwester Christa und um die Loyalität von Brinkmanns Sohn Udo. «Die Schwarzwaldklinik ist eigentlich ein Heimatfilm», sagt die Münchner Kommunikationswissenschaftlerin Constanze Rossmann, «und das Spital als Handlungsort war reiner Zufall.»
Die Wende kam mit «Emergency Room»
Dieses Genre der heimeligen Arzt- und Spitalserie boomte weltweit bis Ende der 80er-Jahre und verlor dann ab Anfang der 90er-Jahre rapide an Anziehungskraft. 1994 kam dann die Wende, und zwar aus den USA. Der Sender NBC produzierte die Serie «Emergency Room» und traf damit den Nerv der Zeit.
Erfunden wurde «Emergency Room» von Erfolgsautor Michael Crichton, der Ende der 60er-Jahre selber in einer Notfallstation als Medizinstudent arbeitete. Neu war, dass die Ärzte in «Emergency Room» nicht mehr nur als Wunderheiler dargestellt wurden, sondern auch als gestresste Ärzte, denen ab und zu Fehler unterliefen. Auch die Überlastung in den US-amerikanischen Notaufnahmen und die strukturellen Probleme des Gesundheitssystems wurden thematisiert.
«Emergency Room» war stilbildend für eine ganze Reihe von neuen Fernsehserien wie «Grey’s Anatomy», «Dr. House» oder «Scrubs», die das vermeintlich alltägliche Leben innerhalb eines Spitals darstellten und sehr aufwendig produziert wurden.
Seriengucker bewerten Ätzte positiver
Noch heute erzielen diese Serien sowohl im öffentlich-rechtlichen als auch im privaten Fernsehen Traumquoten. Auch die Kommunikationswissenschaftlerin Constanze Rossmann verfolgt Spitalserien regelmässig. An der Ludwig-Maximilian-Universität in München forscht sie insbesondere im Bereich der Gesundheitskommunikation. Im Rahmen einer Studie wollte sie herausfinden, wie diese neuen Spital-Serien das öffentliche Image des Arztes beeinflusst haben. Der Befund ihrer Inhaltsanalyse erstaunt: «Trotz dieser aufwendigen Produktion und dem dargestellten Stress auf der Notaufnahme: Gezeigt werden immer noch Halbgötter in Weiss.»
Um den Einfluss dieser verzerrten Fernsehwelt zu untersuchen, liess Rossmann 157 Patienten eines Spitals kurz nach ihrer Aufnahme und kurz vor der Entlassung befragen: zu ihrer Einschätzung und Bewertung von realen Spitalärzten sowie zu ihrem Konsum von Spitalserien im Fernsehen. Das Ergebnis: Die Serien-Vielseher bewerteten die realen Ärzte Anfang ihres Spitalaufenthaltes positiver. Am Ende des Aufenthalts korrigierten sie die Bewertung nach unten und bewerteten das medizinische Personal negativer. Patienten, die selten Spitalserien sahen, bewerteten am Ende ihres Aufenthalts das medizinische Personal im Vergleich zum ersten Messpunkt positiver.
Die fiktiven Ärzte wecken Erwartungen
In anderen Worten: Die Spitalserien und ihre fiktiven Fernsehärzte weckten also zu hohe Erwartungen. Aber es war nicht unbedingt das Kerngeschäft, nämlich die medizinische Pflege, das enttäuschte, sondern die fast brutale Erkenntnis, dass die realen Ärzte für einen gewöhnlichen Schwatz oder Small Talk keine Zeit haben: «Das entspricht schlicht nicht der heutigen Realität», so Rossmann.
Bleibt die Frage, warum Spitalserien seit Jahrzehnten ein Millionenpublikum erreichen. Dazu gibt die Kommunikationswissenschaft keine Antworten. Constanze Rossmann hat allerdings eine Vermutung, und die hat mit der Beliebtheit des Arztberufs an sich zu tun. Denn das Prestige des Arztes ist nach wie vor hoch, weit vor dem Pfarrer, dem Hochschulprofessor und dem Rechtsanwalt. Dem «guten Samariter» wird vertraut, und das wollten die Fernsehproduzenten für ihre Serien ausnützen: «eine Win-win-Situation.»