Markus Gabriel war mit 29 Jahren der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands. Heute ist er 40. In der Zwischenzeit hat er knapp 20 Bücher geschrieben, war Gastprofessor in der ganzen Welt und hat zwei Forschungszentren an der Universität Bonn gegründet.
Gabriel spricht fünf Fremdsprachen fliessend und zitiert die alten Philosophen auf Altgriechisch und Latein. Ein Überflieger. Ein Hansdampf in allen Gassen. Ein Schnelldenker mit geringer Bodenhaftung.
Argumente für eine «objektive Realität»
Philosophisch gleicht Gabriel einem Geisterfahrer gegen den Zeitgeist. Er glaubt nämlich, dass unser Welt- und Menschenbild von Grund auf verkehrt ist. Und brandgefährlich.
Neben dem «Burn-out-Kapitalismus» kritisiert er insbesondere den Materialismus und den Konstruktivismus. Die Welt sei mehr als eine komplexe Ansammlung von Materie, ist Gabriel überzeugt. Zahlen, Gedanken, Grundrechte und Kunstwerke seien genauso wirklich wie Atome.
Auch der Mensch selbst sei mehr als die Summe seiner Teile. «Geist ist nicht Gehirn» lautet der Titel eines seiner populären Bücher. Zudem sei die Wirklichkeit kein Konstrukt unseres Gehirns, wie die Neurowissenschaft uns glaubhaft machen will. Im Gegenteil: Gabriel glaubt, dass wir Zugang zu einer objektiven Realität haben. Dies ist eine der Kernbotschaften seines «Neuen Realismus».
Die reale Existenz von Harry Potter
Zu dieser objektiven Realität gehören überraschenderweise auch fiktive Objekte wie der Samichlaus oder Harry Potter. Über beide können wir nämlich wahre ebenso wie falsche Aussagen machen. Der Satz «Harry Potter kann zaubern» etwa ist wahr. Wie aber können wir über etwas, das nicht existiert, wahre Aussagen machen?
Dieses alte philosophische Problem löst Gabriel, indem er einfach annimmt: Harry Potter muss existieren! Wenn auch «nur» als Teil einer Geschichte. Aber Atome gibt es eben auch nur als Bestandteile eines physikalischen Weltbildes, meint Gabriel. Alles, was es gibt, existiert als Teil eines grösseren Ganzen.
Gabriel spricht von unterschiedlichen «Sinnfeldern». Das allergrösste Ganze aber, die Welt, kann es nicht geben, argumentiert Gabriel in seinem Buch «Warum es die Welt nicht gibt». Die Welt selbst kommt in der Welt nicht vor. Alles andere dagegen schon: Atome, Gefühle ebenso wie Einhörner.
Die Idee einer einzigen Moral
In seinem neusten Buch «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten» argumentiert der ebenso produktive wie provokative Philosoph für eine objektive Moral. Moralische Werte, so Gabriel, seien weder subjektiv noch relativ. Es gibt nicht meine und deine, sondern nur eine einzige Moral – und diese sei über alle Zeiten und Kulturen hinweg gültig. «Die Sklaverei war schon immer moralisch falsch. Man hätte nur die Sklaven fragen müssen», so Gabriel.
In den meisten moralischen Fragen seien sich die Menschen einig, meint Gabriel überraschend. Wenn es da und dort zum Streit kommt, dann liege das in der Regel daran, dass die Faktenlage unklar sei.
Unter Philosophen umstritten
Zudem bekräftigen wir, indem wir über Moral streiten, den moralischen Realismus: Wäre die Moral nämlich blosse Ansichtssache, eine Erfindung unsererseits, dann wäre jeder Streit mit Argumenten sinnlos. Mehr noch: Der Kulturrelativismus, der dies behauptet, sei äusserst gefährlich, da er in «postmoderner Beliebigkeit» ende und moralische Missstände in anderen Kulturen einfach so hinnehme. Das Böse wurzelt im falschen Denken. Davon möchte uns Gabriel befreien.
Bei ihm selbst scheint das geklappt zu haben. Er wandelte sich vom Skeptiker zum Realisten. Die grosse Mehrheit der Philosophinnen und Philosophen aber geht mit seinen Argumenten nicht mit. Das sagt allerdings noch nichts darüber aus, wer denn eigentlich der Geisterfahrer ist: Gabriel oder seine Kritiker.