Die Medizin verlängert unser Leben, zögert den Tod immer weiter hinaus. Dabei gibt es auch eine Kehrseite: Wir können nicht mehr sterben, wenn wir es uns wünschen. Das sagt Roland Kunz, Leiter Palliative Care der Zürcher Stadtspitäler Waid und Triemli.
Covid-19 hat diese Situation grundsätzlich verändert. «Mit der Pandemie hat sich das Schicksal wieder mehr Macht über unser Leben zurückgeholt», sagt Kunz. Darauf sei unsere Gesellschaft nicht vorbereitet gewesen.
Selbstbestimmt sterben mit Corona
In seinem Buch «Über selbstbestimmtes Sterben» plädiert der Palliativmediziner für eine offene Diskussionskultur zu den Themen Tod und Sterben. Auch während Corona sei ein selbstbestimmtes Sterben möglich.
Alten Menschen rät er, sich zu überlegen, was sie im Fall einer Infektion wünschen: Möchten sie unbedingt am Leben bleiben und vielleicht gar intensivmedizinisch behandelt werden? Oder möchten sie in der gewohnten Umgebung, zu Hause oder im Alters- und Pflegeheim, gut begleitet ein mögliches Sterben in Kauf nehmen?
Das seien wichtige Entscheidungen, die am besten vor einer akuten Situation getroffen würden, so Kunz.
Sterben an Corona: Ein meist friedlicher Prozess
Befragungen – etwa im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Lebensende» – haben gezeigt, dass sich die meisten Menschen einen schnellen Tod ohne langes Leiden wünschen.
Genau das passiere während Corona: «Die Erfahrungen in den Heimen zeigen uns, dass das Sterben an und mit Covid-19 für die Betroffenen relativ leicht und friedlich ist», erklärt Roland Kunz. «Die Organe versagen ihren Dienst, meist bevor es zu den Auswirkungen der Lungenentzündung und zu Atemnot kommt.»
Palliative Care könne zusätzlich helfen, die Symptome zu lindern. «Bei einer palliativen Begleitung muss sich niemand vor dem Ersticken fürchten.» Fachkräfte begleiten die Sterbenden und deren Angehörige im ganzen Abschiedsprozess – auch, wenn es um Wünsche, Entscheidungen oder Ängste gehe.
Corona: ein modernes «Memento mori»
Gemäss den Epidemiologen ist Covid-19 erst der Anfang, die Welt muss künftig mit weiteren Pandemien rechnen. Roland Kunz sieht darin auch eine Chance: Covid-19 sei ein Anreiz auch für jüngere Menschen, sich mit dem Sterben zu befassen.
Wir müssen uns auch eingestehen, dass wir nicht alles im Griff haben.
Das lohne sich, so Kunz: «Wir schätzen dann das Leben umso mehr und können jeden Tag bewusster gestalten.» So gesehen seien Pandemien die moderne Form eines «Memento mori» – eine Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit.
Neue Sterbekultur dank Corona?
Kunz ist überzeugt, dass Covid-19 die Sterbekultur unserer Gesellschaft nachhaltig verändern wird. «Sterben und Tod sind in den letzten Monaten viel stärker in den Fokus geraten», sagt der Palliativmediziner.
«Wir müssen uns auch eingestehen, dass wir nicht alles im Griff haben und das Sterben zum Leben gehört.» Das werde gerne ausgeblendet: «Wir nehmen vor allem die immer noch erstaunlicheren Erfolgen der Medizin wahr.»
Übers Sterben sprechen soll gelernt sein
Deshalb habe Corona letztlich auch etwas Gutes. «Die Pandemie kann uns aufrütteln, mehr über den Tod nachzudenken und bewusster mit der eigenen Sterblichkeit umzugehen», sagt Roland Kunz. Noch allerdings befasse sich die Gesellschaft lieber mit Massnahmen oder rede das Virus klein, um dem Thema auszuweichen. «Wir sind erst am Anfang dieses Prozesses», so Kunz.