Rom zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Gemeinsam mit ihrem Arztkollegen und Liebespartner Montesano leitet Maria Montessori – sie war Italiens erste Ärztin überhaupt – ein Institut, an dem Lehrerinnen für die Ausbildung von Kindern mit Behinderung geschult werden. Die beiden setzen Hoffnung in Kinder, die damals als hoffnungslos gelten, als «kleine Idioten».
«Maria Montessori», der erste Spielfilm der französischen Regisseurin Léa Todorov, zeigt die Anfänge der weltberühmten Bildungsikone. Er erzählt, wie sie mit ihren pädagogischen Methoden, die auf Zuneigung und Aufmerksamkeit statt auf Drill und Gewalt basieren, die Pädagogik revolutionierte. Er zeigt auch, welche Opfer Montessori dafür brachte.
Mutterglück geopfert
«Montessori ist eine Frau, die hart für das, was sie später geworden ist, kämpfen musste», erklärt Todorov. Besonders ihre «herzzerreissende Mutter-Geschichte» habe sie fasziniert.
Ihren unehelichen Sohn, dessen Vater Kollege Montesano ist, muss Montessori nämlich bei einer Amme unterbringen. Denn heiraten, «nur» um ihren Sohn bei sich haben zu können, ist für die kompromisslose Montessori keine Option.
Regisseurin Todorov zeichnet eine Heldin, die ihre eigene Wenigkeit für grosse Ziele opfert. Die ihr Kind und ihr Mutterglück schmerzlich für das Wohl anderer Kinder hintenanstellt: Das ist eindrücklich, an Stellen zu Tränen rührend und bisweilen etwas kitschig.
Montessoris Schattenseiten
Ein neu erschienenes Buch kratzt jedoch an Montessoris Image. In «Der lange Schatten Montessoris» beschreibt die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter, dass diese eugenische und rassistische Denkweisen vertrat und dem Faschismus nahestand. Anlass für die Analyse von Montessoris Gedankengut gab Seichter die deutsche Übersetzung ihres Hauptwerks «Antropologia Pedagogica» (1910), die vor fünf Jahren erschien.
Ein paar Erkenntnisse aus Seichters Studium: Montessori habe Menschen in «anormale» und «normale» Menschen unterschieden. Wer «anormal» sei, sei auch «minderwertig» und von der «normalen» Menschen zu trennen. Nur mit einer Trennung könne eine Gesellschaft besser werden.
Für Kira Ammann, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Bern, nicht bahnbrechend: «In Fachkreisen ist schon länger bekannt, dass Montessori eugenische und rassistische Denkweisen vertrat.»
Streitbare Figur
Regisseurin Todorov kennt Seichters Erkenntnisse und sieht sie teilweise kritisch: «Ich frage mich, was der Wille der Autorin ist. Zitate sind aus dem Kontext gerissen und vieles, was sie sagt, ist ungenau.»
Trotz Kritik am Buch: Grundsätzlich fände sie es gut, die fast schon mythische Figur Montessori von ihrem Podest zu heben. In einem Dok-Film habe sie etwa Montessoris Nähe zum Faschismus beleuchtet. Hier habe sie sich jedoch entschieden, eine andere Facette Montessoris zu erzählen.
Weg mit Montessori?
Im Wissen um Montessoris theoretischen Hintergrund fällt der Blick auf den Film und ihre pädagogischen Methoden kritischer aus. Komplett zerstören, so die Erziehungswissenschaftlerin Ammann, müsse man den Mythos Montessori nicht: «Es wäre vermutlich der falsche Weg zu sagen, Montessori darf nicht mehr sein und muss entfernt werden. Denn das eine ist die Theorie, das andere Praxis.»
Die bis heute beliebten pädagogischen Grundsätze und die streitbare Figur. Trennbar? Vielleicht.