Viele Menschen klagen über chronischen Stress im Job. Durch die Corona-Pandemie ist der Arbeitsalltag oftmals noch belastender geworden. Um nicht in eine Stress-Spirale zu geraten, solle man auf die Signale seines Körpers achten, sagt der Arbeitsmediziner Dieter Kissling.
SRF: Herr Kissling, gemäss Studien sind viele Arbeitnehmende süchtig nach Arbeit und ständiger Betriebsamkeit. Entsteht Stress eher durch äussere Faktoren oder wird er von uns selbst gemacht?
Dieter Kissling: Beide Aspekte sind relevant. Hat ein Individuum hohe Erwartungen, etwa, weil es zum Perfektionismus neigt, trägt das zum Stress bei. Anderseits sind auch die Rahmenbedingungen zentral, etwa die Unternehmens- und Führungskultur. Wenn beides zusammenkommt, kann chronischer Stress entstehen.
Die Psychologie unterscheidet zwischen Eustress und Distress, also positivem und negativem Stress. Kann Stress denn auch positiv sein?
Ursprünglich ist Stress eine Überlebensstrategie: Wenn der Bär kommt, müssen wir leistungsfähiger sein, um zu überleben. Zum Problem wird er erst, wenn permanent hohe Leistungsbereitschaft gefordert wird und der Stress chronisch wird.
Stress beflügelt uns auch.
Aber stellen Sie sich vor, Sie hätten früher vor Prüfungssituationen keinen Stress verspürt. Sie wären gar nicht bereit gewesen zu lernen. Stress beflügelt uns auch.
Wann wird aus der Herausforderung eine Überforderung, aus befriedigender Betriebsamkeit eine ungesunde Stressbelastung?
Wenn unser Körper und unsere Psyche sich melden und Symptome auftreten. Wenn ich merke, dass ich mich aufgrund dieser chronischen Belastung verändere. In dem Moment sollte man sich eingestehen, dass man kürzertreten muss.
Welche Mechanismen am Arbeitsplatz erzeugen negativen Stress?
Untersuchungen zeigen, dass der Zeitdruck ganz weit oben steht. Auch die Arbeit mit Kunden oder Patienten birgt hohe Stressrisiken. Dazu kommen diverse Führungsthemen, etwa Kommunikationsprobleme zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten und das Thema Arbeitsplatzunsicherheit. Auch lange Arbeitszeiten und zwischenmenschliche Konflikte erzeugen negativen Stress.
Wenn die Stressbelastung chronisch ist, kann man krank werden. An welchen Symptomen zeigt sich das?
Auf der körperlichen Ebene gibt es die typischen Schulter-Nacken-Verspannungen, Reizdarm-Beschwerden oder Herzrhythmusstörungen. Auf der psychischen Ebene sind Schlafstörungen ein frühes Symptom.
Frühe Anzeichen werden oft nicht bemerkt.
Dann kommt es auch zu Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit und Gereiztheit. Ich werde dünnhäutig und reagiere aggressiver auf das Umfeld. Diese frühen Anzeichen werden leider von den Betroffenen, die in dieser Stress-Spirale stecken, oft nicht bemerkt. Es gehört für sie einfach dazu, und das Umfeld leidet.
Gibt es in diesem Prozess einen «Point of no return», ab dem man als Betroffener aus den Stressfolgen nicht mehr herauskommt?
Ja, den gibt es leider. Wenn die Erschöpfung so stark wird, dass nichts mehr geht. Wenn sich Symptome einer Depression einstellen oder sich körperliche Schäden entwickelt haben, ist eine intensive Therapie nötig. Dann braucht es Hilfe von aussen, allenfalls stationär in einer Klinik, damit Patienten konsequent behandelt werden können.
Bewegung ist extrem hilfreich.
Stichwort Prävention: Was kann man tun, um nicht in eine solche Spirale hineinzugeraten?
Bewegung ist extrem hilfreich. Wenn wir uns bewegen, bilden sich neue Nervenzellen im Gehirn, die widerstandsfähiger machen. Wir sollten uns regelmässig entspannen und genügend schlafen – sieben bis acht Stunden pro Nacht. Ausserdem sollten wir nicht von morgens bis abends ohne Unterbruch durcharbeiten, sondern jede Stunde eine Mikropause machen und die Gedanken sammeln.
Zudem sollte man die eigenen Erwartungen überdenken: Muss es immer perfekt sein? Dazu gehört auch, stressverschärfende Gedanken wie «was denken die wohl von mir?» in den Griff zu bekommen, anstatt sich dauernd selbst zu stressen.
Welche Verantwortung hat das Arbeitsumfeld?
Als Arbeitgeber frage ich mich immer wieder: Wie schaffe ich eine Unternehmenskultur mit meinen Regelwerten und Überzeugungen, in der die Mitarbeitenden sich wohlfühlen? Ist meine Führungskultur unterstützend, wertschätzend? Das sind wichtige Aspekte, die in einem Arbeitsumfeld auch zusammen mit den Mitarbeitenden geklärt werden müssen. Parallel erwarte ich von meinen Mitarbeitenden, dass sie ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und ein gewisses Gesundheitsverhalten pflegen.
Gibt es stresserzeugende Faktoren, die weder Vorgesetzte noch Mitarbeitende beeinflussen können?
Mit der Corona-Pandemie erleben wir seit zwei Jahren ein Beispiel dafür. Wir können Covid nicht steuern, aber wir können beeinflussen, wie wir damit umgehen. Das ist das Entscheidende. Wir nennen dies Resilienz: Lasse ich mich von einer belastenden Situation krankmachen, oder habe ich die Fähigkeit, trotzdem gesund zu bleiben?
Das Gespräch führte Irène Dietschi.