Das Wichtigste in Kürze:
- Eine Studie aus Deutschland sagt, dass 70 Prozent der Kinder im Kita-Alter täglich das Handy ihrer Eltern nutzen.
- Die übermässige Nutzung von digitalen Medien könne unter anderem Hyperaktivität, Konzentrations- und Schlafstörungen hervorrufen, heisst es.
- Der Schweizer Medienpsychologe Gregor Waller kritisiert die Studie: Dass Smartphones die Ursache für diese Störungen seien, könne sie nicht bestätigen.
- Eine Schweizer Studie zeige, dass Kinder meist zurückhaltend mit digitalen Medien umgehen, sagt Waller.
«Kleinkinder brauchen kein Smartphone», sagt Marlene Mortler. «Sie müssen erst einmal lernen, mit beiden Beinen sicher im realen Leben zu stehen.» Mortler ist die Drogenbeauftragte der deutschen Bundesregierung. Ihre Aussage liegt einer Medienstudie bei, die zeigen soll, dass eine übermässige Nutzung digitaler Medien bei Kindern zu Entwicklungsstörungen führen kann.
In der BLIKK-Studie 2017 (BLIKK steht für Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz, Kommunikation) haben Kinderärzte rund 5500 Kinder und Jugendliche in Deutschland untersucht. Sie haben sie und ihre Eltern zu ihrem Umgang mit digitalen Medien befragt.
Handy der Eltern in den Händen der Kinder
Die Studie wird erst in einigen Monaten vollständig veröffentlicht, vor den Gefahren wird aber schon jetzt gewarnt: Sie reichen von Fütter- und Einschlafstörungen bei Säuglingen über Hyperaktivität bei Kleinkindern bis zu Konzentrationsstörungen bei Kindern im Grundschulalter. Je höher der Medienkonsum, desto ausgeprägter die genannten Auffälligkeiten.
Zu den Ergebnissen der Studie gehört auch diese: 70 Prozent der Kinder im Kita-Alter nutzen das Smartphone ihrer Eltern mehr als eine halbe Stunde täglich. Mortler fordert: «Die gesundheitlichen Risiken der Digitalisierung müssen ernst genommen werden.»
Ein genauer Blick auf die Studie
Die Resultate der Studie sind mit Vorsicht zu geniessen, meint Gregor Waller, Co-Leiter der Fachgruppe Medienpsychologie der ZHAW. «Die Studie bestätigt nicht, dass die Nutzung des Smartphones direkt für die gesundheitlichen Probleme verantwortlich ist.» Es handelt sich um eine Querschnittstudie. Nachgewiesen wurden hier lediglich Zusammenhänge, aber keine eindeutige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung.
Ausserdem werde nichts über den Inhalt des Medienkonsums gesagt, sagt Waller. «Was machen diese ‹70% der Kita-Kinder› auf dem Smartphone? Ein Lernspiel, das ihnen Zahlen und Buchstaben näher bringt? In der BLIKK-Studie wurde offenbar nur die Nutzungsdauer erhoben, das sagt aber nichts über die Art der Nutzung aus.» Habe man neben der halbstündigen Smartphone-Nutzung eine ausgewogene Freizeitgestaltung, dann sei das nicht problematisch.
Medienkonsum ist die Symptomatik
In der Schweiz wurde 2015 von der ZHAW ebenfalls eine Studie zum Medienkonsum von Primarschülern durchgeführt. Die MIKE-(Medien, Interaktion, Kinder, Eltern)-Studie ergab, dass der weitaus grösste Teil der Kinder im Primarschulalter zurückhaltend mit digitalen Medien umgeht.
«Im Randbereich gibt es Auffälligkeiten», sagt Waller. «Bei diesen Kindern spielen aber oft noch andere Aspekte eine Rolle. Bei starker Doppelbelastung der Eltern etwa – wenn beide 100% arbeiten – und nebenbei noch die Erziehungsarbeit stemmen müssen. Es gibt aber auch andere Komponenten wie zum Beispiel eine verminderte Impulskontrolle, die eine Rolle spielen. Übermässiger Medienkonsum ist dann die Symptomatik.»
Bei dieser kleinen Gruppe von Kindern müsse man genauer hinschauen, deren Verhalten dürfe auch nicht verharmlost werden, sagt Waller. «Diese problematischen Fälle sollte man aber nicht verallgemeinern.»
Digitale Medien im Fokus
Das Smartphone strikt zu verbieten, hält Waller für keine realistische Idee. «Die Kinder wachsen in einer digitalisierten Welt auf, und Eltern sollten in dieser ihre Aufsichtspflicht wahrnehmen.»
Alarmierende Studien in Bezug auf Medien haben eine lange Tradition. «Vor 30 Jahren war es der Fernseher, heute sind es die digitalen Medien. Da die jeweils aktuellsten Medien auch am meisten erforscht werden, werden dazu auch viele negativ konnotierte Studien publiziert» sagt Waller. «Sieht man sich die Effekte über einen längeren Zeitraum an, werden extreme Aussagen in den meisten Fällen relativiert.»
Eltern sollen Kinder in die digitale Welt begleiten
Dass Studien verstärkt in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gelangen, die problematische Aspekte des Medienkonsums hervorheben, hängt auch mit unserem Mediensystem als solches zusammen, meint Waller. Denn: «Je extremer und problematischer die Resultate der Studie sind, desto grösser ist die Medienresonanz.»
Dass der richtige Umgang mit digitalen Medien frühzeitig kontrolliert und geübt werden müsse, ist für Waller die brauchbarste Schlussfolgerung der BLIKK-Untersuchung. «Bei Kleinkindern haben vor allem Eltern eine wichtige Rolle. Sie sollten ihre Kinder in dieser digitalen Welt begleiten, dann kann die Nutzung durchaus positive Effekte auf die Entwicklung des Kindes haben.»
Sendung: SRF 1, 10vor10, 30.5.2017, 21:50 Uhr.