Ihr kamen die Tränen, als sie die Kommentare zu ihrem ersten Artikel gelesen hatte. Vor allem Männer zogen niveaulos über sie her, sagt Katja Lewina.
Dabei hatte sie eigentlich nur über ihre offene Beziehung geschrieben, die sie seit einigen Jahren führt. Dazu entschied sich das Paar, nachdem der Mann fremdgegangen war.
Bereits im Freundeskreis irritiert die offene Beziehung, obwohl viele in ihrem Umfeld aufgeklärt und mehrheitlich akademisch gebildet seien. Aber für die meisten sei nach wie vor die monogame Beziehung das Ideal.
Um Ängste und Vorurteile abzubauen, denen sie so oft begegnet, sucht sie das Gespräch. Sie will Klartext reden, auch öffentlich.
In den Medien Normen hinterfragen
So verfasst sie 2016 ihren ersten Text «Wie die Affäre meines Freundes unsere Beziehung rettete» und schickt ihn an die Redaktion von Vice, einem Online-Magazin für junge Erwachsene. Weil dort – so sagt sie – gerne Texte abgedruckt würden, die Normen hinterfragen.
Die Redaktion nimmt ihren Text umgehend an. Es folgen weitere Aufträge von anderen Medien wie zeitonline und jetzt.de oder Magazinen wie Playboy und Nido.
Schreiben über Sex, Lust und Klischees
Ihren Job als Künstlermanagerin hängt die 33-Jährige bald an den Nagel, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können, dem Schreiben über Sex, über Lust und über Klischees. Darüber, dass wir aufhören sollten, gut im Bett sein zu wollen, oder wie es sich anfühlt, 469 Mal im Dezember zu masturbieren.
«Ich teile gerne meine Erfahrungen und rede offen über meine Bedürfnisse, sonst würde ich nicht solche persönlichen Texte schreiben», sagt die Autorin.
Schamhaft aufgewachsen
Als Kind und Jugendliche hingegen wurde ihr der Mund verboten. «Ich bin total schamhaft aufgewachsen», sagt Katja Lewina, die 1984 in Moskau zur Welt kommt. Mit sechs Jahren zieht die Familie nach Deutschland. Dort besucht sie später ein katholisches Gymnasium.
Sowohl in der Schule als auch am Familientisch ist das Thema Sexualität ein Tabu. Der beste Weg ist die Flucht nach vorn, sagt sie: «Benenne das, wofür du dich schämst und die Scham wird weniger werden.»
Die Scham wurde weniger, weil Katja Lewina sie schreibend anging.
Vorurteile durchs Schreiben überwinden
Obwohl ihre Texte vor allem aus ihrer persönlichen Perspektive verfasst sind, betont sie, gehe es ihr nicht um Exhibitionismus. Vielmehr ist sie überzeugt, dass Rollenvorstellungen, Klischees und Vorurteile überwunden werden können, indem man darüber redet – und schreibt.
Damit trifft sie bei ihren Leserinnen und Lesern einen wunden Punkt. Regelrecht überflutet wird sie mit Nachrichten und Kommentaren; vor allem Männer beschimpften sie. Von «oberflächlich» und «narzisstisch» bis hin zu «bindungsunfähiger Krüppel» ist alles dabei.
Reaktionen zum Thema machen
«Anfangs war das die Hölle für mich», sagt sie. «Ich dachte, ich kann gleich wieder aufhören mit Schreiben», erinnert sie sich. Nachdem sie den Schock verdaut hatte, machte sie die heftigen Reaktionen in einem weiteren Artikel gleich zum Thema.
«Menschen fühlen sich stark provoziert von Frauen, die sich artikulieren». Es sei nach wie vor nicht selbstverständlich, dass eine Frau offen und selbstbewusst ihre Bedürfnisse einfordert und Lust am Sex zeigt, erklärt Katja Lewina die heftigen Reaktionen. Das gesellschaftliche Modell der willigen Frau und dem triebgesteuerten Mann kommt ins Wanken.
Ansporn zum Weiterschreiben
Mittlerweile kann sie die wüsten Kommentare wegstecken. So paradox es klingt: Diese würden sie letztlich anspornen, weiterzuschreiben. «Solange sich die Menschen darüber aufregen, wenn eine Frau öffentlich über Sex spricht, gehört das Thema immer und immer wieder durchgekaut – bis kein Hahn mehr danach kräht.»
Solange, bis sexuell aktive Frauen keine Provokation mehr sind. Auch wenn bis dahin noch zwei Jahrzehnte verstreichen sollten: Katja Lewina ist geduldig.