Rund um die Schweiz gerät die Demokratie unter Druck. In der Türkei lässt Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen schärfsten Herausforderer kurzerhand verhaften. In Serbien gehen Tausende auf die Strasse – sie demonstrieren gegen Korruption, für freie Wahlen und echte Mitbestimmung. Auch in Ungarn oder Russland zeigt sich: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Und die Schweiz?
Die Schweiz gilt international als Musterbeispiel für Demokratie – direkt, stabil, bürgernah. Doch der Schein trügt. Denn zwischen dem Ideal auf dem Papier und der gelebten Realität klafft eine Lücke: Weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten nutzt ihr Wahl- und Abstimmungsrecht.
Wir leben in einem System, in dem ein Siebtel der Bevölkerung über alle entscheiden kann.
Der Satiriker Michael Elsener bringt das Dilemma mit einem eindrücklichen Zahlenspiel auf den Punkt: «In der Schweiz leben rund neun Millionen Menschen. Von diesen sind 5.6 Millionen stimmberechtigt. Wenn davon 45 Prozent zur Urne gehen (durchschnittliche Stimmbeteiligung), dann bleiben noch 2.6 Million Stimmberechtigte, die über eine Vorlage entscheiden.»
«Für ein Ja oder Nein genügen dann 1.3 Millionen, die über eine Vorlage entscheiden. Diese sind die sogenannte Mehrheit. Wir leben in einem System, in dem 14 Prozent über uns alle bestimmen können. Das ist ein Siebtel», sagt Elsener.
In seinem aktuellen Bühnenprogramm fragt er sich unter anderem, weshalb die Schweizer Stimmbeteiligung so tief ist. Seine satirische Antwort: Nur schon das Stimmkuvert zu öffnen, ist viel zu umständlich. Wenn diese Hürde geschafft ist, wird das Ganze nicht einfacher – ganz im Gegenteil.
Doch die Schweiz ist stolz auf ihre direkte Demokratie, auch wenn sie für viele Menschen kompliziert ist. Denn keine andere Nation gibt ihren Bürgerinnen und Bürgern so viele Mitsprachemöglichkeiten. Mit der Volksinitiative beispielsweise kann jede stimmberechtigte Person mit 100'000 Unterschriften eine Verfassungsänderung anregen.
Und mit dem Referendum können sogar Gesetze, die das Parlament bereits beschlossen hat, gestoppt werden – 50'000 Unterschriften genügen, dass das Stimmvolk über das Gesetz entscheidet. Doch was nützen all die Werkzeuge, wenn sie am Ende nur von einer Minderheit wirklich genutzt werden?
Debattieren lernen im Klassenzimmer
Laut Elsener liegt einer der Gründe für die tiefe Stimmbeteiligung in der mangelnden politischen Bildung: «Die meisten Jugendlichen lernen in der Schule, wie der Bundesrat funktioniert oder was das Wort ‹Referendum› bedeutet. Aber sie erleben es nicht. Es fehlt der praktische Bezug».
Sein Vorschlag: Debattieren lernen als Schulfach. Denn politische Meinungsbildung brauche Übung, Austausch, Reibung. «Ein Schulparlament wäre ein guter Anfang. Junge Menschen sollen erleben, dass ihre Stimme zählt – und wie Entscheidungen zustande kommen.»
Der zweite Grund für die tiefe Beteiligung: Vertrauensverlust. «Viele Politikerinnen und Politiker sprechen nicht mehr die Sprache der Bevölkerung. Sie wirken distanziert, verwenden Floskeln, vermeiden klare Positionen. Die Leute merken das und fühlen sich nicht ernst genommen. Politiker müssten sich mehr auf Augenhöhe bewegen – ehrlich, klar, verständlich.»
Sind Junge politisch interessiert?
Michael Elsener ist nicht der Einzige, der findet, dass die Schweizer Politik sich ändern müsste, um mehr Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Viele junge Menschen in der Schweiz fühlen sich von der aktuellen Politik nicht angesprochen. Laut dem DSJ Jugend- und Politikmonitor 2023 ist das politische Interesse unter Jugendlichen grundsätzlich hoch.
Doch obwohl sich die jungen Menschen grundsätzlich für Politik interessieren: Ungefähr 40 Prozent der Befragten stimmen voll oder eher zu, dass die komplizierte Sprache der Politikerinnen und Politiker ein Grund ist, nicht abstimmen zu gehen. Ebenso das Gefühl, dass Abstimmungsvorlagen die Probleme nicht lösen. Themen, die im politischen Diskurs oft im Vordergrund stehen, interessieren Junge zudem weniger.
Vielmehr kümmern sie spezifische Probleme wie Rassismus, Diskriminierung und der Klimawandel. Auch Themen, die bisher kaum im politischen Diskurs stattfanden – wie etwa die psychische Gesundheit – sind den jungen Generationen wichtig.
Beim Besuch des Berufsbildungszentrums Pfäffikon SZ bestätigt sich: Das Interesse an der Politik ist da – aber es gibt auch viele offene Fragen. Die Berufsschülerinnen und -Schüler schwärmen vom Allgemeinunterricht, in dem sie auch politische Aktualitäten diskutieren. Sie kennen die direkte Demokratie, wissen, was rund um die Schweiz herum und auf der Welt läuft und dass unser politisches System keine Selbstverständlichkeit ist.
Wenn sich Junge zur Wahl stellen, haben sie meine Stimme.
Luka Milosavljevic, der die Lehre als Logistiker bei der Post macht, ist nachdenklich: «Wir müssen der Demokratie Sorge tragen – sonst verlieren wir den Dialog.» Er bespricht politische Fragen gerne mit seiner Schwester sowie Kolleginnen und Kollegen und nimmt Abstimmungen und Wahlen aktiv wahr.
Tobias Dillier, angehender Landwirt, geht ebenfalls regelmässig abstimmen. Er informiert sich direkt im Gespräch mit Berufskollegen über die jeweiligen Vorlagen. Politik findet für ihn auf dem Feld statt – konkret, greifbar, im Alltag. «Wenn sich Junge zur Wahl stellen, haben sie meine Stimme», sagt er.
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Bild 1 von 3. Sarina Abegg ist angehende Bauspenglerin und besucht die Berufsschule. Sie findet, dass junge Menschen wenig über Politik diskutieren. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 3. Luka Milosavljevic macht die Lehre als Logistiker bei der Post. Er ist sich bewusst, dass die Demokratie nichts Selbstverständliches ist und wir ihr Sorge tragen müssen. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 3. Tobias Dillier ist in der Ausbildung zum Landwirt. Er wählt gerne junge Politikerinnen und Politiker. Bildquelle: SRF.
Die angehende Bauspenglerin Sarina Abegg beobachtet bei vielen Gleichaltrigen eine gewisse Gleichgültigkeit – die sich oft im Alltag zeigt: «Früher hat man am Küchentisch diskutiert. Das machen wir Jungen kaum mehr. Wir schauen lieber ins Smartphone.» Sie selbst ist politisch interessiert, darf aber noch nicht abstimmen, weil sie zu jung ist.
Diese Stimmen zeigen: Es ist nicht Desinteresse, sondern oft Distanz. Politik wird als etwas erlebt, das weit weg passiert, kompliziert ist und schwer zugänglich. Die Verbindungen zwischen den jungen Bürgerinnen und Bürgern und den politischen Institutionen scheinen oft dünn zu sein.
Die Schweiz steht vor der Herausforderung, ihre demokratischen Prozesse so zu gestalten, dass sie auch die jüngeren Generationen erreichen.