Der zentrale Platz bei der Universität die Neuchâtel hiess lange Espace Louis-Agassiz – benannt nach einem Schweizer Rassentheoretiker, der Schwarze als minderwertig einstufte.
Im Juni 2019 entschied die Stadt, den Platz umzubenennen. «Espace Tilo Frey» heisst er jetzt – benannt nach der ersten schwarzen Nationalrätin der Schweiz.
Die Historikerin Jovita dos Santos Pinto kennt das Leben der «Gande Dame» Tilo Frey. Ein Gespräch über die Polit-Pionierin.
SRF: Tilo Frey, die Tochter eine Schweizers und einer Kamerunerin, war 1971 eine der ersten elf Nationalrätinnen in der Schweiz – neben Frauen wie Hedi Lang, Lilian Uchtenhagen oder Josi Meier. War es damals überraschend, dass diese dunkelhäutige Frau gewählt wurde?
Jovita dos Santos Pinto: Es kam für alle überraschend. Tilo Frey selbst sagt, dass sie an diesem Abend früh nach Hause gegangen sei. Sie dachte nicht, dass sie gewählt würde. Niemand hatte mit ihrer Wahl gerechnet.
Wie wurde Freys Wahl in den Medien aufgenommen?
Das war ein grosses Thema – zuerst in der Deutschschweiz, später auch in der Romandie. In den Porträts wurde Tilo Freys Herkunft immer wieder thematisiert.
Hat Tilo Frey ihre Herkunft eingesetzt – oder kam das nur von aussen?
Sie musste sich positionieren, weil die Herkunft in den Artikeln stets zum Thema gemacht wurde. Sie hat ihre Herkunft aber nicht unbedingt zum Thema in der Politik gemacht.
Frey hat sich zwar für die Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt. Aber es kommt nicht in ihrem politischen Programm vor. Sie war keine feurige, antirassistische Kämpferin in den 1970er-Jahren.
Was weiss man über ihre Erfahrungen mit Rassismus?
Sie kam in den 1920er-Jahren in die Schweiz. Danach kamen der Nationalsozialismus und der Faschismus in Europa auf.
Sie hat Freunden erzählt, dass man ihr in der Schule nicht zutraute, dass sie etwas könne, weil sie ja eine «dreckige Negerin» sei. Mehr weiss man nicht.
Die Umbenennung des Platzes ist ein wichtiger Präzedenzfall.
Tilo Freys Vater hat zu ihr immer gesagt, sie solle so weiss sein wie eine Lilie. Sollte sie unsichtbar sein?
«Blanc comme un lis» kommt häufig vor. Interessant ist diese Einschreibung in ein Weiss-Sein, weil es eine ganz bestimmte Art von Symbolik aufruft: Weiss-Sein ist Rein-Sein. Da will man hin. Spannend ist die Frage: Was macht das mit einer Person, die eben nicht weiss ist?
Die Metapher galt aber auch ihrer Politik. Sie hat entschieden, dass sie das Schwarz-Sein nicht immer wieder zum Thema machen will. Sie hat auch gesagt: «Frauen müssen doppelt so viel leisten und dann lächeln.»
In den USA sollte Bürgerrechtlerin Harriet Tubman auf der 20-Dollarnote das Gesicht des Sklavenhalters austauschen. In der Schweiz wird ein Platz nach der ersten dunkelhäutigen Nationalrätin benannt, nachdem er den Namen eines rassistischen Mannes trug. Späte Genugtuung?
Es ist der erste und einzige Platz in der Schweiz, der einer nicht-weissen Person gewidmet ist, spezifisch einer Afro-Schweizerin. Die Stadt setzt damit ein Signal.
Die Erinnerung richtet sich nicht mehr an die Person, die rassistisch war, sondern an die Person, die aufgrund von Rassismus Marginalisierung erfahren hat. Es ist wie ein Perspektivenwechsel, ein ganz wichtiger Präzedenzfall.
Wie unterscheidet sich das Selbstverständnis schwarzer Frauen anfangs der 1970er-Jahre von dem der schwarzen Frauen heute in der Schweiz?
Es gibt heute mehr nicht-weisse Leute hier. Es gibt verschiedene Gruppierungen, die eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen geführt haben und Wege gefunden haben, diese Macht- oder Ungleichheitsbeziehung zu benennen.
Das Gespräch führte Monika Schärer.