Wenn man älter werde, merke man stärker, dass das Leben endlich sei. Das zu akzepieren, sei gar nicht so einfach, sagt Margrith Bigler-Eggenberger. Sie war die erste Bundesrichterin der Schweiz.
«Loslassen ist irrsinnig schwierig. Sich vorzustellen, dass man nicht mehr da ist, ist ein recht happiger Gedanke (...). Aber es hat keinen Sinn, sich endlos Gedanken zu machen. Der Tod ist eben eine Tatsache.»
Die heute 87-Jährige studierte Jus, wurde Anwältin, Dozentin und Richterin – und das alles, bevor sie überhaupt das Stimmrecht besass. Im Buch «Ausleben» erzählt Margrith Bigler-Eggenberger, wie sich Berufskollegen während Jahren weigerten, mit ihr zu sprechen. Sie habe trotzdem immer «wahnsinnig gerne gearbeitet».
«Geholfen hat mir mein Trotzkopf», sagt sie. Heute lebt sie in einer Alterswohnung am Stadtrand von St. Gallen und hat noch immer eher zu wenig als zu viel Zeit. «Unter anderem, weil es viel zu lesen gibt, wenn man sich für den Zustand der Welt interessiert», wie die Autorin Mena Kost schreibt.
Keine Angst vor dem Tod
In «Ausleben» porträtiert Kost zusammen mit der Fotografin Annette Boutellier 15 Frauen und Männer zwischen 83 und 111 Jahren.
Zu Wort kommen bekannte Persönlichkeiten wie ein Nobelpreisträger oder eine Schauspielerin genauso wie eine Bergbäuerin, eine Hebamme oder ein Pöstler. Sie erzählen aus ihrem langen Leben, berichten von ihrem Alltag und von ihren Ängsten und Hoffnungen in Bezug auf ihren eigenen Tod.
Vor dem Tod fürchten sich die Porträtierten nicht, er gehört zum Leben dazu. Es ist die Ungewissheit, wie sie dereinst sterben werden, die Angst macht, und die Sorge um ein Alter, das einen massiv einschränken könnte.
«Im Alter wird alles enger», sagt etwa der Jazzmusiker Bruno Spoerri. «Es geht nicht auf – es geht zu. Darauf reagiere ich mit Ängsten. Nichts mehr machen zu können, ist für mich ein fürchterlicher Gedanke.»
Wohnzimmer, Garten, E-Bike
Die Journalistin Mena Kost und die Fotografin Annette Boutellier haben die betagten Menschen zu Hause besucht, lange Gespräche geführt, Fotos gemacht und gemeinsam mit ihnen Familienalben angeschaut.
Entstanden sind Porträts, die konsequent in der Ich-Form gehalten sind und auf ein paar wenigen Seiten einen intimen, aber nie voyeuristischen Einblick gewähren in ein ganzes Leben.
«Ich wollte nicht kommentieren oder gar werten, sondern festhalten, was die Menschen mir erzählt haben», sagt Mena Kost. Und Annette Boutellier (sie hat übrigens auch das aktuelle Bundesrats-Foto gemacht) liefert Fotos, die die Menschen in ihrem Alltag zeigen – im sorgsam aufgeräumten Wohnzimmer, im Garten oder mit dem E-Bike.
Einige der Porträts sind angereichert mit Fotos von früher. Das verleiht dem Buch einen besonderen Zauber. Denn der Betrachter sieht, wie jemand ausgesehen hat, als er oder sie jung war.
Die Gabe des Ausblendens
Auf die Frage, ob es eine Haupterkenntnis gebe, die sie aus der Arbeit an diesem Buch gezogen hat, antwortet die 40-jährige Autorin: «Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass man überall genau hinschauen und alles ausleuchten muss im eigenen Leben.»
Wichtig sei die Gabe des Ausblendens und die Fähigkeit, Missglücktes oder Unfertiges zu akzeptieren und den Blick auf etwas anderes, Gelungenes zu richten.
Das ist allen Menschen gemeinsam, die in diesem Buch porträtiert sind: Sie hadern nicht mit ihrem Schicksal, sondern nehmen es an, so wie es gewesen ist – mit allem Guten und Schweren. Was bleibt, sind Dankbarkeit und die Hoffnung, dereinst gut zu sterben.