Wer als Kind sexuell missbraucht wurde, trägt die Folgen ein Leben lang. Einige schaffen es, später ein gutes Leben zu führen, andere zerbrechen daran. Wie das Trauma-Gedächtnis funktioniert, erklärt Psychologin Myriam Thoma.
SRF: Woran leiden Erwachsene, die als Kinder Missbrauchserfahrungen gemacht haben?
Myriam Thoma: Menschen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden, leiden ihr ganzes Leben. Bei Übergriffen durch Vertrauenspersonen spricht man von einem «Trauma durch Verrat».
Dieser Verrat trifft Kinder besonders hart und kann später zu starken Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, zu Depressionen, zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung bis hin zu anhaltenden Persönlichkeitsveränderungen führen.
Generell kann man sagen, dass sie ein hohes Risiko haben, im Verlauf ihres Lebens eine psychische Störung zu entwickeln.
Wie ist ein solcher Verrat durch Respektspersonen oder moralische Autoritäten zu beurteilen, etwa durch Erzieher oder im kirchlichen Umfeld?
Die Kinder vertrauen Autoritätspersonen als moralische Instanzen. Wenn dieses Vertrauen missbraucht wird, ist das für die Kinder besonders einschneidend.
Wie erinnern sich Kinder an sexuelle Übergriffe?
Zunächst sind solche Erlebnisse für die Kinder eine totale Überforderung. Deshalb funktionieren die üblichen Gedächtnismechanismen nicht richtig. Das Traumagedächtnis speichert starke Sinneseindrücke ab, sozusagen die Erfahrung im Rohformat. Bestimmte Geräusche, Gerüche, Bilder bleiben haften.
Das Traumagedächtnis speichert Erfahrung im Rohformat.
Diese Sinneseindrücke bleiben im Gedächtnis festgefroren und laufen später nach immer gleichem Schema und mit grosser emotionaler Heftigkeit ab. Weil dieses Gedächtnis anders funktioniert als das normale Gedächtnis, gibt es keine Verortung in Raum und Zeit, sondern die Eindrücke werden immer neu durchlebt, als ob sie real stattfänden. Das ist sehr belastend.
Erinnert werden also nur Fetzen des Erlebten?
Ja, es sind Erinnerungsfetzen, blitzähnliche ungeordnete Eindrücke, die meist nicht in einen logischen zeitlichen Ablauf passen. Das ist genau die Schwierigkeit: Nicht das ganze Erlebnis wird erinnert, sondern nur Bruchstücke davon.
Betroffene haben Mühe, das Erfahrene mit Worten zu beschreiben.
Viele Betroffene haben Mühe, das Erfahrene mit Worten zu beschreiben. Bei Kindern kommt hinzu, dass sie nicht verstehen, was vor sich geht. Doch im Grundsatz funktioniert das Traumagedächtnis in jedem Alter gleich.
Warum kommen die einen Betroffenen später einigermassen gut durchs Leben, während andere an den Verletzungen zerbrechen?
An dieser Frage wird derzeit viel geforscht. Es gibt noch keine klare Antwort. Aber man weiss, dass viele Faktoren im Spiel sind: Lebt die betroffene Person in einem guten sozialen Umfeld und erhält Unterstützung? Kann sie sich jemandem anvertrauen?
Die soziale Integration ist ein wichtiger Faktor, ebenso der sozio-ökonomische Status. Für Menschen, die in Armut leben und über wenig Bildung verfügen, ist es schwieriger, über solche Erlebnisse hinwegzukommen. Natürlich hat auch die Persönlichkeitsstruktur einen Einfluss. Und wer mehrere Traumatisierungen erlebt, wird später mehr Mühe haben, damit umzugehen.
Wie können Eltern oder Betreuer die Kinder stärken, damit sie mit traumatischen Erlebnissen besser umgehen können?
Das Selbstwertgefühl der Kinder ist zentral. Wir sollten sie ermutigen und ihnen die Autonomie geben, sich zu entfalten. Kinder sollen merken, dass sie viele Dinge lernen können.
Das bedeutet nicht, dass wir sie für alles loben, was sie tun. Sie müssen lernen, ihre eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Liebe und Geborgenheit sind natürlich wichtig, auch körperliche Wärme, nicht nur von der Mutter, sondern auch von nahestehenden Betreuungspersonen. Kinder sollen wissen, auf wen sie sich verlassen können.
Das Gespräch führte Christa Miranda.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Religion, 26.03.2017, 10:00 Uhr