Haben Sie gestern einen glamourösen Event besucht? Heute ein ausgefallenes Designermöbel gekauft? Für morgen einen Kurztrip in die nächste Boom-Stadt geplant?
Dann haben Sie's geschafft – allen voran den Sprung in ein neues Zeitalter: die Spätmoderne.
Denn unsere Gesellschaft befindet sich mitten in einem epochalen Wandel. Statt die Gemeinschaft lassen wir nun das Individuum hochleben. Davon handelt das Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten»: Andreas Reckwitz’ schonungslose Analyse unserer Zeit.
Keine verbindenden Werte mehr
Unterdessen sei das Besondere Trumpf und es werde nur das Einzigartige prämiert, streicht der deutsche Soziologe hervor. Damit unterscheide sich die Spätmoderne fundamental von der Industriegesellschaft.
Bis in die 1970er-Jahre herrschten «sehr viel stärker konformistische Werte», sagt Reckwitz. Der Einzelne wollte nicht auffallen, sondern so sein wie die Mehrheit der Gesellschaft. Es ging darum, ein verbindendes Wertesystem zu leben, etwa das klassische Familienmodell mit Standardhaus im Grünen und Pauschalferien im Süden.
Die Ich-AG im Wettbewerb
Heute dagegen seien solche allgemein gültigen Massstäbe überholt. Nun steht laut Reckwitz das Ich im Vordergrund. Es will sich selbstverwirklichen, privat wie beruflich.
Dieser Prozess führt zur sogenannten Singularisierung: Jede und jeder strebt danach, als einzigartig wahrgenommen zu werden – allen voran über digitale Plattformen wie Facebook oder Instagram, die wir als Bühne zur persönlichen Inszenierung nutzen.
Das hat mit Narzissmus zu tun, wird in unserer Leistungsgesellschaft aber auch zunehmend verlangt. Denn sie hat sich dem Wettbewerb verschrieben.
Wer Erfolg haben will – «soziale und monetäre Anerkennung», wie es Reckwitz ausdrückt –, muss herausstechen. Doch damit kommt es zu einer paradoxen Pointe: Das Individuum liefert sich der Masse aus. Ausgerechnet sie richtet über unsere Individualität.
Paradoxe Pointe
Um uns abzuheben, laden wir Handlungen und Gegenstände mit Bedeutungen auf, die über ihre reine Funktion hinausgehen. Ferien dienen nicht mehr nur zur Erholung, sondern müssen mehr bieten: prestigeträchtiges Erlebnis. Alltägliche Objekte hieven wir in den Rang von Statussymbolen, zum Beispiel unsere elektronischen Gadgets.
Allerdings vollzieht sich hier eine weitere paradoxe Pointe: Wir folgen nämlich bestimmten Mustern. So kommt es, dass wir plötzlich alle in dieselbe Stadt für den Wochenendtrip strömen oder dasselbe Smartphone kaufen. Ohne es zu merken, mitten wir uns also wieder ein: in die Masse der vermeintlich Einzigartigen.
Gefahr der Überforderung
Davon zeugt auch unsere Vorliebe für höhere Bildung. Der Weg in die Einmaligkeit führt über die Universität. Gemäss Reckwitz hat bereits rund ein Drittel der Erwerbsbevölkerung einen Hochschulabschluss. Das Leitbild der Industriegesellschaft, der Arbeiter, rückt in den Hinter- und der Akademiker in den Vordergrund.
Wer da nicht mithalten kann, läuft Gefahr, marginalisiert zu werden. Das führt zu Kränkung, Verunsicherung, Überforderung, Abschottung – und wirkt sich politisch aus.
Viele Menschen nehmen sich «als Globalisierungsverlierer» wahr, meint Reckwitz. Sie fühlen «eine massive soziale Deklassierung». Die Folge: Sie suchen Halt. Und den finden sie oft in populistischen Parteien, da diese in der Regel globalisierungskritisch sind.
Die Mittelklasse zerfällt
Nun steht die Gesellschaft vor einer Zerreissprobe. Denn ihr Stabilisator, die Mittelklasse, fällt auseinander: Es bleibt zwar noch ein Rest alter Mittelklasse, doch es bilden sich zusätzlich «zwei polar gegenübergestellte neue Klassen».
Auf der einen Seite erhebe sich eine «neue Mittelklasse» mit hohen Ansprüchen und der Voraussetzung, diese zu erfüllen. Auf der anderen Seite entstehe eine «neue Unterklasse», für die «Werte wie Selbstentfaltung und hoher sozialer Status völlig illusionär» würden, sagt Reckwitz. Lebenswelt, Lebensgefühl und Lebensstandard der sozialen Auf- und Absteiger driften auseinander.
Umso wichtiger ist es, dass die Gesellschaft beginnt, wieder verstärkt ein Bewusstsein fürs Gemeinschaftliche zu entwickeln. Nebst Singularität muss Solidarität genauso ihren Platz haben. Sonst droht die Spätmoderne an sich selbst zu scheitern. Das zeigt Andreas Reckwitz’ Buch eindrücklich.