Stellen Sie sich vor, sie sind in einer Beziehung und eines Tages ist ihr Partner einfach weg. Keine Ankündigung, kein Streit, keine Meldung.
Dieses Phänomen nennt man «Ghosting». Aber was löst es aus? Und was hat es mit der vernetzten Internetgesellschaft zu tun? Fragen an die Autorin und Journalistin Tina Soliman.
SRF: Jemanden zu «ghosten» wirkt impulsiv und extrem. Ist es das auch?
Tina Soliman: Nein, der Abbruch passiert meist nicht plötzlich, sondern zeichnet sich über einen längeren Zeitraum ab. Dabei spielen alte Verletzungen und Machtverhältnisse in der Beziehung eine Rolle. Vorher waren sie oft unausgeglichen.
Wenn in allen Bereichen das Bestellprinzip gilt, warum nicht auch in Beziehungen?
Personen, die ihren Partner «ghosten», versuchen häufig wieder auf eine Augenhöhe mit ihm zu kommen.
«Ghosting» wird oft mit dem digitalen Zeitalter in Verbindung gebracht. Ist es eine Konsequenz der Digitalisierung?
Ja! Das Internet führt uns vom Zeitalter der Wahl zum Zeitalter der Auswahl. Auswahl impliziert natürlich auch Abwahl.
Wir sind zu einem Produkt geworden, das man konsumiert und dann in die Tonne schmeisst. Dank der Digitalisierung ist das virtuelle Regal ja auch immer gut gefüllt. Man muss nur zugreifen.
Wenn da einer nicht passt, geht er eben retour. Wenn in allen Bereichen das Bestellprinzip gilt, warum nicht auch in Beziehungen? Datingapps erlauben es zudem, ganz einfach zu verschwinden. Der «Wisch und Weg»-Mechanismus solcher Apps befördert solches Verhalten.
Solche Datingplattformen haben auch Tabus wie schnellen Sex gesellschaftsfähig gemacht. Ist «Ghosting» in solchen Zeiten überhaupt noch ein No-Go?
Während der Kontaktabbruch mit Familie oder Verwandten etwas rein Privates und Tabubehaftetes ist, scheint «Ghosting» in gewisser Weise geradezu gesellschaftsfähig zu sein. Es gehört zu unserer neuen Umgangskultur.
Es ist bequem geworden, Kontakte abzubrechen.
Langfristig betrachtet können jedoch die Folgen für den Geist und für das soziale Miteinander extrem schädlich sein.
Inwiefern?
Unsere Ansprüche an einen Partner werden immer grösser. Gleichzeitig ist es bequem geworden, Kontakte abzubrechen.
«Ghosting» ist der grösste vorstellbare Beziehungsgau. Er bricht Herzen ohne Worte und Erklärungen.
Dadurch muss man sich nicht persönlich weiterentwickeln. So wird eine Generation von Beziehungsängstlichen geschaffen, die immer alle Wünsche erfüllt bekommen.
Sie haben sowohl Verlasserinnen als auch Verlassene kennengelernt. Was ist Ihr Fazit in Bezug auf die Verlassenen?
Das plötzliche Ignorieren hinterlässt tiefe Wunden beim Verlassenen. Für den Zurückbleibenden wirkt es so, als hätte man es mit einem Gespenst zu tun gehabt.
«‹Ghosting› ist der grösste vorstellbare Beziehungsgau. Er bricht Herzen ohne Worte und Erklärungen», schrieb mir etwa eine junge Verlassene.
Und bei den Verlassenden?
Der Tenor der Kontaktabbrecher lautet: «Ich suche nach dem passenden Partner, dem Besten. Der Andere hätte so oder so sein sollen, erfüllte aber meine Ansprüche nicht. Also brach ich den Kontakt ab.»
Die «Ghosts» berichten von der Angst, sich festzulegen oder sich falsch zu entscheiden. Überall Unsicherheit und gleichzeitig der grosse Wunsch nach Bindung. Das private Glück steht über allem. Und die Einzigartigkeit des Menschen wird zum Makel.
Das Gespräch führte Gina Messerli.