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Lebensaufgabe: Wenn der Sohn an Schizophrenie erkrankt
Aus Kontext vom 03.09.2024.
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Übersehen und unterschätzt «Ich war überfordert» – was Angehörige psychisch Kranker leisten

Rund zwei Millionen Menschen in der Schweiz unterstützen aktuell eine nahestehende Person, die an einer psychischen Erkrankung leidet. Eine Mutter erzählt, was die Erkrankung ihres Sohns für sie bedeutet und wo sie sich mehr Gehör vom Gesundheitssystem wünscht.

Alles beginnt damit, dass Laura Regli ihren Sohn nicht mehr wiedererkennt. Sie fragt sich: Ist das noch die Pubertät? Oder doch mehr?

Nach dem Übertritt ins Gymnasium verliert er seine Freunde, beginnt viel zu kiffen, entfernt sich immer mehr von ihr. Dann macht er die Nacht zum Tag, kommt nicht mehr aus dem Bett. Schliesslich bricht er das Gymnasium ab.

Irgendwann waren die Kräfte erschöpft.
Autor: Laura Regli Mutter eines Sohnes mit psychischer Erkrankung

Psychologische Abklärungen folgen, ein Versuch in einem Schulheim. Als er mit 15 Jahren zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik kommt, wird ihm dort die Diagnose Schizophrenie gestellt.

Porträt einer Frau mit Ohrringen und Schal.
Legende: Laura Regli ist Mutter eines Sohnes mit der Diagnose «Schizophrenie». Laura Regli

Für Laura Regli ein Schock. Es habe sie unfassbar traurig gemacht. «Das Gespräch, in dem wir davon erfuhren, war kurz und oberflächlich. Nach der Diagnose mussten wir unterschreiben, dass er Medikamente bekommt, die für Jugendliche nicht zugelassen sind. Alles musste sofort gehen. Ich war überfordert.» 

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Archiv: Schizophrenie kurz erklärt
aus Audio Aktuell SRF 3 vom 09.04.2013. Bild: IMAGO/imagebroker/auth
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Es folgten unruhige, kräftezehrende Jahre mit Klinikeintritten und -austritten. Immer wieder habe sie ihren Sohn auch zu Hause betreut, aber das ging nur eine Zeit lang gut: «Irgendwann waren die Kräfte erschöpft wegen der ständigen Alarmbereitschaft, vor allem in der Nacht.» Daneben einen normalen Familien- und Arbeitsalltag aufrechtzuerhalten, habe sie auf die Länge nicht hinbekommen. 

Fast jeder Vierte ist betroffen 

2.1 Millionen Menschen in der Schweiz unterstützen aktuell eine nahestehende Person, die an einer psychischen Erkrankung leidet. Das kann der beste Freund mit einer Depression sein, eine Tochter mit einer Zwangserkrankung oder eine Partnerin mit bipolarer Störung.

Zwei Personen umarmen sich in einer Küche.
Legende: Familienmitglieder mit psychischen Krankheiten zu betreuen, kann erschöpfend sein. Manchmal kann die Fürsorge sogar selbst krank machen. Man spricht dann etwa von einer Co-Depression. Getty Images/Maskot

Diese Zahl hat die Angehörigen-Organisation «Stand by You Schweiz» zusammen mit dem Sozialforschungs-Institut SOTOMO erhoben. Im Frühjahr haben sie eine Studie publiziert, die erstmals die Situation der Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen in der Schweiz aufzeigt. 

Viele unterstützen ihre Liebsten länger als fünf Jahre. Psychische Erkrankungen sind komplex und dauern oft lange, manchmal ein Leben lang.

Mit der Dauer nimmt auch die psychische Belastung der Angehörigen zu. Da sind Gefühle wie Trauer, Angst, Schuld oder Scham. Und das Konfliktpotential zwischen Unterstützenden und Betroffenen steigt. 

«Angehörige sind systemrelevant» 

Das ist fatal, denn Angehörige übernehmen eine wichtige Rolle im Gesundheitssystem. Sie seien systemrelevant, sagt Christian Pfister, Co-Präsident von Stand by you Schweiz: «Alles, was nicht funktioniert im Gesundheitssystem, überall wo die Bruchstellen sind, alles, was da durchsickert, landet wieder bei den Vertrauenspersonen und bei den Angehörigen», sagt Pfister.

Ohne die Angehörigen, auch das geht aus der Studie hervor, müssten viele Patientinnen und Patienten zusätzliche professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Ich habe mich selten willkommen gefühlt und ich hatte selten das Gefühl, dass unsere Vorschläge gehört werden.
Autor: Laura Regli Mutter eines Sohnes mit der Diagnose «Schizophrenie»

Die Angehörigen-Organisation wünscht sich deshalb, dass Angehörige besser informiert und involviert würden – in den Psychiatrien, von Psychiaterinnen und Psychologen.

Auch Laura Regli wollte sich mehr einbringen. «Ich habe mich selten willkommen gefühlt und ich habe selten das Gefühl gehabt, dass unsere Vorschläge gehört werden.»

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Archiv: Leben mit Schizophrenie
Aus GESUNDHEITHEUTE vom 23.09.2017.
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Ausserdem hätte sie mehr Informationen benötigt, um ihren Sohn gut begleiten zu können. Hilfe und Unterstützung fand sie erst bei Angehörigen-Organisationen. «Dort habe ich Tipps erhalten, die ich von keinem Psychiater oder Psychologen gehört habe.» Christian Pfister von Stand by you Schweiz bestätigt: «Das ist kein Einzelfall». 

Arztgeheimnis und fehlende Zeit 

Bei «Swiss Mental Healthcare», der Vereinigung der Psychiatrischen Kliniken und Dienste, weiss man von diesem Bedürfnis der Angehörigen. Doch es gibt Gründe, warum dieses nicht recht befriedigt werden kann. 

Wenn wir gut und konstruktiv mit den Angehörigen zusammenarbeiten können, dann nehmen sie uns auch sehr viel Arbeit ab.
Autor: Erich Seifritz Präsident von Swiss Mental Healthcare

Einer ist das Arztgeheimnis, sagt Erich Seifritz, Präsident von Swiss Mental Healthcare: «Psychiater dürfen Informationen über die Patientinnen und Patienten nur austauschen, wenn diese einverstanden sind.» Einen weiteren Grund sieht Psychiatrieprofessor und Klinikleiter Seifritz in der fehlenden Zeit.

Person spricht mit Therapeut im Büro.
Legende: Medizinische Fachpersonen unterliegen der Schweigepflicht. Daher ist es nicht immer einfach, Angehörige in eine Therapie einzubeziehen. Getty Images/ZeynepKaya

Die Aufenthaltsdauer in den Kliniken ist kürzer geworden und die Administration habe zugenommen. Dennoch räumt Seifritz ein, müsse man das Thema in der Aus- und Weiterbildung mehr ins Bewusstsein rücken, «wenn wir gut und konstruktiv mit den Angehörigen zusammenarbeiten können, dann nehmen sie uns auch sehr viel Arbeit ab. Wir können von den Angehörigen viel profitieren.» 

Auf den Webseiten der Schweizer Psychiatrien findet sich deshalb überall eine Rubrik für Angehörige, mit Anlaufstellen und Informationen. Trotzdem bleibt eine Unzufriedenheit, weil Kliniken durchaus weitergehen und noch mehr tun könnten.

Neuer Behandlungsansatz

Im Berner Oberland arbeitet man etwa mit dem Behandlungsansatz «Open Dialogue». Die Psychiatrie der Spitäler Frutigen, Meiringen und Interlaken hat ein ganzes interdisziplinäres Team dafür. Wenn die Patienten einverstanden sind, finden bei einer akuten Krise sogenannte Netzwerkgespräche statt.

Hilfe für Betroffene und Angehörige

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Brauchen Sie Hilfe oder machen Sie sich Sorgen um einen Menschen? Hier finden Sie Hilfe und Informationen für Betroffene in Krisensituationen – rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos: 

Etwa dann, wenn eine Zwangseinweisung im Raum steht. Dabei werden alle Angehörigen und Vertrauten einbezogen. Ein Zweierteam holt in dem Gespräch Bedürfnisse und Perspektiven von allen Seiten ab, sucht gemeinsam nach Lösungen. Das Angehörigen-Telefon sei seither fast stumm, sagt Sabrina Müller, Mitglied der Psychiatrieleitung der Spitäler fmi AG. Das zeige ihr, dass die Angehörigen sich einbezogen fühlen. 

Laura Reglis Sohn ist inzwischen 21 Jahre alt. Die Situation hat sich für die ganze Familie etwas beruhigt. Sie fühlt sich in der Klinik, in der ihr Sohn aktuell ist, auch erstmals besser involviert. 

Was bleibt, ist die Ungewissheit, was die Zukunft bringt, und die Hilflosigkeit: «Ich kann meinem Sohn diese Krise nicht abnehmen.»

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Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 3.9.2024, 09:05 Uhr.

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