«Oh mein Gott!», war alles, was John Meyers denken konnte: Er hielt eine Locke von George Washington in der Hand.
Das war vor wenigen Wochen, als der Bibliothekar des Union College in New York zwischen den Seiten eines fragilen Lederbandes auf einen Umschlag stiess. In diesem hatte – sorgfältig beschriftet und jahrzehntelang vergessen – eine graue Strähne des ersten amerikanischen Präsidenten gelegen.
Ein Haar: eine Nachricht
Am Tag nach der Entdeckung berichteten sämtliche US-Medien darüber. In den Vereinigten Staaten haben die Hinterlassenschaften historischer Persönlichkeiten den Status von Reliquien.
Obskure Staatsmänner wie Alexander Hamilton auferstehen als Musical-Stars am Broadway, regelmässig landen dicke Schinken über Wichtiges und Winziges aus der amerikanischen Geschichte auf den Bestsellerlisten. Mit anderen Worten: US-Amerikaner sind geschichtsvernarrt.
Geschichtsbewusstsein ist beschränkt
«Leider interessieren wir uns nur für unsere eigene Geschichte», sagt Professor Sean Wilentz, Historiker an der Universität Princeton. Viel weiter als bis zur amerikanischen Revolution reiche das Geschichtsbewusstsein seiner Landsleute nicht zurück.
Sonst müssten sie sich mit den britischen und den holländischen Kolonialherren befassen oder – noch unangenehmer – mit den indianischen Ureinwohnern, die sie beinahe ausgemerzt hatten. Ein Umstand, dessen sich heute, zumindest offiziell, niemand mehr rühmt.
Sean Wilenzt erklärt die Geschichtsobsession der Amerikaner mit dem Bedürfnis, für sich eine Ausnahmestellung in der Welt zu reklamieren: «Gerade weil wir ein so junges Land sind, wollen wir uns durch eine einzigarte Geschichte definieren.»
Von Zusammenhängen wenig Ahnung
Er erinnert auch daran, dass in einer Nation von Immigranten wie den Vereinigten Staaten jeder Zuwanderer eine eigene Vergangenheit mit sich bringt. Da sei der Entwurf einer gemeinsamen Geschichte für den nationalen Zusammenhalt entscheidend.
Tatsächlich können viele Amerikaner die Namen historischer Figuren und Daten von Ereignissen herunterbeten, als handle es sich dabei um Baseball-Statistiken. Doch von den Zusammenhängen haben viele keine Ahnung. Wo das «Wer, Wann und Wo» das «Warum» ersetzt, wuchern die Mythen.
Vergangenheit beschwören
Einen wahren Meister der Mythologisierung sieht Sean Wilentz in Donald Trump. Mit seinem Slogan «Make America Great Again» beschwöre der Präsident das Bild einer grossartigen Vergangenheit, die nie existiert habe.
«Trump impliziert, dass die Abschaffung der Rassentrennung, die Erweiterung der Bürgerrechte, der Feminismus, ja alle sozialen Fortschritte der 1960er- und 1970er-Jahre für den vermeintlichen Niedergang Amerikas verantwortlich sind.»
Verklärte Verhältnisse
Dabei sei es in jenem fantastischen Damals, in dem hauptsächlich reiche weisse Männer das Sagen hatten, nur sehr wenigen Menschen gut gegangen. Wenigen, ausser den reichen Weissen.
Wie Donald Trump in die amerikanische Geschichte eingeht, steht noch offen. Sicher ist, dass er wie jeder US-Präsident ein eigenes Museum erhalten wird. Und vielleicht geraten dessen Besucher in 200 Jahren beim Anblick einer orange-blonden Locke ebenfalls in Verzückung.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 14.3.2018, 17:20 Uhr