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Die Bildmappe von Jörg Müller zeigt, wie Städte entstehen.
Aus Kultur Extras vom 02.04.2015.
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Gesellschaft & Religion Und ewig droht die Abrissbirne

Ein Häuschen im Grünen: Ein vergängliches Idyll, das plötzlich einer Autobahn weichen muss. Mit dem Bilderbuch «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» machte Jörg Müller 1973 einer Generation den Baumboom bewusst. Aktuell ist es bis heute. Ein Gespräch mit dem Illustrator.

Ihre Bildermappe «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» aus dem Jahr 1973 hat eine ganze Generation geprägt. Viele Menschen erinnern sich auch heute noch, als Kind darin geblättert zu haben. Wie erklären Sie sich den Erfolg des Buches?

Zur Person

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Legende: Inge Sauer

Jörg Müller (geb. 1942) wuchs in Küsnacht bei Zürich auf und absolvierte in Zürich und Biel die Kunstgewerbeschule. «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» war seine erste Bildermappe. Er gewann damit den deutschen Jugendbuchpreis. Viele andere Bilderbücher, auch in Zusammenarbeit mit Jörg Steiner, folgten. Einige wurden verfilmt.

Jörg Müller: Das Buch erschien zu einer Zeit, in der die Umweltprobleme im allgemeinen Bewusstsein präsent waren. Die Umweltzerstörung wurde zum Thema. Wäre es früher erschienen, wäre es höchstwahrscheinlich ein totaler Flop gewesen.

Denn das Buch hatte ich schon 1969 zusammen mit meinem Freund und Kunstmaler Bendicht Fivian geplant. Verlegerische und finanzielle Probleme verzögerten das Projekt. Als der Verlag grünes Licht gab, malte ich 1972 alles neu. Aber das grossformatige Buch wurde kaum bestellt – es passte nicht in die Regale der Buchhandlungen.

Dann machten zwei Buchbesprechungen das Buch bekannt, und die Nachfrage stieg. Die Bücher passten aber noch immer nicht in die Bücherregale, landeten deshalb auf dem Büchertisch und sorgen so für Aufsehen. Es war also auch viel Glück dabei.

Was hat Sie damals bewegt, das Buch zu zeichnen?

Ich spürte – wie viele andere auch – plötzlich ein Unwohlsein, als überall Einfamilien-Häuschen beliebig in die Landschaft wuchsen. Die Industrie stellte zudem überall Riesenbauten hin, und ganze Quartiere wurden flachgewalzt. Das löste bei mir ein Unbehagen aus.

Die Idee von Bendicht Fivian und mir war ursprünglich, ein Buch über Spiele zu zeichnen, die wir in unserer Kindheit spielten – auf den Strassen und in den Hinterhöfen. Wir wurden uns dann bewusst, dass es diese gar nicht mehr gab. Und dass es keinen Sinn macht, nostalgische Bilder zu zeichnen. Die Frage, die uns bewegte, war: Wie ist es zu diesem Verlust an Bewegungsfreiheit für die Kinder gekommen? So ist das Buch entstanden.

Das Häuschen steht ja im Dorf Güllen. Haben Sie sich da von einem bestimmten Häuschen inspirieren lassen?

Güllen ist ein Zitat aus Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame». Das Stück beinhaltet das Wesen unserer Aussage. Nämlich, dass man alles dem Profit opfert und eigentlich seine Seele dem Teufel verkauft. Das Häuschen selbst ist von einem Haus in Bern-Betlehem inspiriert. In Wirklichkeit war es aber nicht so klein und auch nicht rosa. Ein paar Jahre später wollte ich das Häuschen anschauen. Dann stand ein grosser Häuserblock da.

Was wollten Sie damals mit dem Buch bewirken?

Audio
Leben in der Agglomeration – ein Treffen mit Jörg Müller
03:49 min
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Es war nicht meine Absicht, Kinder mit der Umweltproblematik zu belasten. Das Ziel war es, dass das Buch wie ein trojanisches Pferd in die Familien gelangt und die Eltern, die die Veränderung erlebt hatten, aufschreckt. Ich wollte, dass sich die Kinder die Bilder anschauen, sich darüber amüsieren und dann nach Details fragen. Und die Erwachsenen sehen plötzlich im Zeitraffer, was geschehen ist.

Was kann uns das Buch auch 2015 noch vermitteln?

Ich wollte auch vor 40 Jahren keine Botschaften vermitteln. Ich wollte die Menschen zum Nachdenken anregen – vor allem auch mich selbst.

Das Häuschen, umgeben von einer idyllischen Natur – ist das das Idealbild, das wir Menschen anstreben sollten?

Kürzlich hat mir jemand gesagt, dass Landschaft Landwirtschaft sei – und das seit Jahrtausenden. Was ist also eigentlich Natur? Das Problem scheint mir, dass wir unsere Umwelt, die sehr stark von unseren Bedürfnissen und Tätigkeiten geprägt ist, immer mehr tatenlos profitgierigen Firmen und Kapitalisten überlassen. Das ist eine etwas altmodische Äusserung, aber sie stimmt immer noch. Und in unserer Bequemlichkeit – zwar mit einem schlechten Gewissen – verzichten wir auf einen energischen Widerstand. Weil das Verzicht bedeuten würde.

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