Am Würstelstand «Bitzinger» hinter der Staatsoper stehen zwei Wiener zwischen einer Gruppe Touristen und einer Familie mit Kinderwagen. «Beim Würstelstand rutscht man zammn», meint der eine und tunkt das letzte Wursträdchen im Senf.
«Hier kannst dein Würstel im Anzug essen und plauderst nebem Hackler (Arbeiter) im staubigen Gwand.» Ein bisschen Romantik sei dabei, meint sein Kumpel, aber es stimme schon. Und je später es wird, desto mehr würden die Leute auch miteinander reden.
Gschichten mit Schmäh
Der Wiener Würstelstand gilt – noch viel mehr als das Kaffeehaus – als sozialer Knotenpunkt. Hier, das erzählt man sich Stadt auf Stadt ab, diskutieren Politikerinnen mit Taxlern und Opernbesucherinnen mit Schichtarbeitern.
Der Würstelstand-Mythos gehört zum Lebensgefühl Wiens. Darum locken die kleinen «Standln» nicht nur Wurstliebhaber an, sondern auch all jene, die hungrig sind nach guten Geschichten.
Die Geschichte der Würstelstände
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Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurden zunehmend Würste von fliegenden Händlern aus Handkesseln und Karren angeboten. Die Wägelchen waren häufig vor Fabriktoren oder an Verkehrsknotenpunkten stationiert.
Im frühen 20. Jahrhundert kamen vermehrt grössere, fahrbare Garküchen auf, die täglich zu einem Stammplatz gebracht wurden. Laut der Stadt Wien sollten die mobilen Würstelstände zur Zeit der Habsburger Monarchie Kriegsinvaliden ein Einkommen sichern.
1969 erlaubte Wien feststehende Standorte. Seitdem prägen die «Standln» das Erscheinungsbild der Stadt.
Von denen hat die Würstelstandbesitzerin Vera Tondl einige auf Lager: «Mitten im Winter bestellte ein Kunde bei uns seinen Hotdog Käsekrainer – und zwar splitterfasernackt. Unser Verkäufer hat ihn dann nur gefragt: ‹Und mit wos wüst zahlen?›»
Vera Tondl und ihr Sohn Patrick betreiben den ältesten noch bestehenden Würstelstand. Veras Grossvater gründete den «Würstelstand LEO» vor 95 Jahren. «Noch immer kann man hier unter zehn Euro essen und trinken», erzählt Patrick Tondl, «und wir sind auch mitten in der Nacht für alle da, die jeden Euro zammnkratzen müssen.»
Einmal Krainer mit Senf und Kren
Den Spitzenplatz in der Gunst der Standl-Kundschaft hält ohne Zweifel die Käsekrainer, eine Schweinswurst mit Käsestückchen drin. Klassischerweise wird sie mit geriebenem Kren (Meerrettich) und Senf gegessen. Für Wien gibt es aber nicht das eine Wurstwahrzeichen wie etwa die Weisswurst für München oder die Olma-Bratwurst für St. Gallen.
Das Würstelstand-Vokabular
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Teil des Würstelstand-Mythos sind die zahlreichen Dialektausdrücke für fast alles, das am Würstelstand feilgeboten wird. «Echte Wiener», so liest man in Reiseführern, würden stets mit besonders kreativen und etwas ekelhaften Wörtern bestellen.
So ist «a Eitrige mit an Buggl, a Krokodü, a Ölige und anam 16er-Blech» eigentlich eine Käsekrainer mit dem Endstück vom Brot, eine Essiggurke, eine eingelegte Pfefferoni und ein Ottakringer Dosenbier (aus dem 16. Gemeindebezirk).
Tatsächlich benutzen dieses Vokabular heute fast ausschliesslich Touristinnen und Touristen, die sich vergeblich als Einheimische ausgeben wollen.
Oder wie es ein Wiener Würstelstandbesucher sagt: «So redt in Wien ka Mensch.»
Typisch ist viel mehr das breite Assortiment der Würstelstände. Neben den Genannten gehören Waldviertler, Burenwurst, Bratwurst und Debreziner zum Standard-Repertoire. Wienerli sucht man jedoch vergebens, die heissen in Wien nämlich Frankfurter.
Veganes Kimchi-Würstel
Wien gilt, was Veränderungen betrifft, als behäbige Stadt. Keine Mühe scheint man aber damit zu haben, dass fast jeder Würstelstand mittlerweile auch vegetarische und vegane Alternativen anbietet.
Eine ganze Auswahl davon gibt’s beim Würstelstand «Extra Würstel» im 2. Bezirk. Die vegane Kimchi-Bosna ist schon lange kein Geheimtipp mehr. Und der erste biozertifizierte «Wiener Würstelstand» im 8. Bezirk, wo unter anderem Würstel aus Austernpilzen gebraten werden, taucht regelmässig in den Top-Ten-Listen der Wiener Würstelstände auf.
Urbane Perlen
Die «Wiaschtlstände» nutzt die Stadt Wien längst zur Aussendarstellung. Dass sie als echte Sehenswürdigkeiten angepriesen werden, hat auch architektonische Gründe. Die kleinen Häuschen sind zwar nicht so prunkvoll wie Schloss Schönbrunn, besonders bei Nacht sind sie mit ihren leuchtenden Schriftzügen im Retrolook aber wahre Perlen im Stadtbild.
Ihre Anziehungskraft haben Würstelstände für Nachtschwärmer aber freilich aus anderen Gründen. «Der Würstelstand gehört nach dem Feiern einfach dazu», sagen mir die beiden Würstelstandbesucher beim «Bitziger». «Wenn der Abend nicht erfolgreich war, also wenn du keine Frau kennenglernt hast, kriegst hier immerhin noch ein Würstel.»
Was ist ein immaterielles Kulturerbe?
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Immaterielles Kulturerbe bezeichnet lebendige, über Generationen weitergegebene Traditionen und Praktiken, die einer Gemeinschaft ein Gefühl der Identität und der Kontinuität vermitteln. Dies sind beispielsweise Musik, Tanz, Brauchtum, Feste oder traditionelle Handwerkstechniken. Das immaterielle Kulturerbe ist äusserst vielfältig und verändert sich stetig.
Radio SRF 2 Kultur, 100 Sekunden Wissen, 9.12.2024, 6:54 Uhr
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