«Stellen Sie sich vor, Sie leben als Eritreerin mit drei kleinen Kindern an einer vielbefahrenen Strasse in einer Wohnung im vierten Stock und sind alleinerziehend – da bleiben die Kinder tagelang in der Wohnung und stundenlang vor dem Fernseher.»
Das sei eine belastende Situation, sagt Andrea Lanfranchi, Professor am Institut für Professionalisierung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich: Die Frau sei isoliert, die Kinder könnten sich nicht im Freien bewegen. Dies wirke sich bald auf das Lernen und die Schulleistungen aus.
Lernort Familie
Andrea Lanfranchi befasst sich seit Langem mit dem Thema Frühforderung und lernt selbst, wie er sagt, immer noch dazu: So habe er früher geglaubt, dass es reiche, wenn Kinder von Migranten in einer Spielgruppe Deutsch lernen, bevor sie in den Kindergarten kommen. Heute wisse man, dass die Sprachförderung noch früher einsetzen müsse.
Studien haben gezeigt, dass Vierjährige, die in einem privilegierten Milieu aufwachsen, bereits über einen doppelt so grossen Wortschatz verfügen als Gleichaltrige aus armen Verhältnissen. Dieser Rückstand sei fast nicht mehr aufzuholen und beeinflusse den weiteren Lernzuwachs.
Deswegen sollten Eltern bereits mit ihrem Neugeborenen viel sprechen: «Die Familie ist der wichtigste Lernort eines Kindes, denn schon im Säuglingsalter werden die Grundlagen für das Lernen gelegt.»
Von Elternbildung profitieren auch die Kinder
Für Kleinkinder gute Entwicklungsbedingungen zu schaffen, gelingt Eltern nicht immer – etwa wenn sie wirtschaftlich in prekären Verhältnissen leben und psychisch belastet sind. Um solche Familien zu unterstützen, haben einzelne Zürcher Gemeinden in Zusammenarbeit mit Andrea Lanfranchi das Programm «PAT – Mit Eltern Lernen» aufgebaut. Dabei werden Familien während mehreren Jahren von einer Sozialarbeiterin betreut.
Konkret geht es darum, Eltern zu unterstützen, damit sie für ihre Kinder bessere Lebens- und Lernbedingungen schaffen können. Sie werden angeleitet, selber Deutsch zu lernen, Kontakte zu anderen Familien zu knüpfen und Bildungsangebote, wie Ludotheken und Bibliotheken zu nutzen. Die wissenschaftliche Auswertung im Forschungsprojekt «Zeppelin» zeigt, dass sich das Programm positiv auf die Sprachentwicklung und Lernerfolg der Kinder auswirkt.
Herkunft entscheidet oft über Bildungserfolg
Solche Bemühungen sind umso notwendiger, als der Bildungserfolg in der Schweiz stärker als in anderen Ländern vom sozialen und wirtschaftlichen Status der Eltern abhängt.
So weist etwa der nationale Bildungsbericht 2014 darauf hin, dass Mädchen, die in Mathematik und Deutsch die Note 5.5 erreichen, mit sehr unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit in ein Langzeitgymnasium übertreten, je nachdem, aus welcher sozialen Schicht sie kommen.
Bei Schülerinnen aus einem privilegierten Milieu beträgt die Wahrscheinlichkeit 70 Prozent, bei solchen aus benachteiligten Verhältnissen lediglich 30 Prozent.
Ein Grund dafür ist, dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler auf ihrem Bildungsweg immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert werden. Etwa dann, wenn Lehrkräfte annehmen, dass sie es langfristig nicht schaffen, da von zu Hause keine Unterstützung erwartet werden kann.
Doppelte Selektion in der Schweiz
Diese ungleich verteilten Chancen auf höhere Bildung werden in der Forschung schon lange kritisiert. Trotzdem tauchen sie immer wieder von Neuem auf. So etwa, wenn es um die Zuteilung in eine weiterführende Schule geht.
Zu einer solchen Selektion kommt es in der Schweiz – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – gleich zweimal: am Ende der Primarschule und beim Übertritt ins Gymnasium. «Diese Aufteilung ist politisch motiviert, sie läuft der Chancengerechtigkeit zuwider und dient letztlich der Elitenbildung», sagt Markus P. Neuenschwander, Professor für Pädagogische Psychologie am «Zentrum für Lernen und Sozialisation» an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Chancengerecht unterrichten
Doch nicht zuletzt hängt der Bildungserfolg eines Kindes auch massgeblich vom Unterricht und vom Engagement der Lehrpersonen ab. Individuelles Fördern wird heute grossgeschrieben, viele Lehrpersonen bemühen sich darum.
Doch, wenn es um die Frage geht, wer was kann, kommt nicht selten stereotypes Denken ins Spiel. Schüler aus bildungsfernem Elternhaus bekommen zum Beispiel dann, wenn sie etwas gut gemacht haben, nur ein eingeschränkt positives Feedback: «Das ist gut, das habe ich von Dir gar nicht erwartet.»
Lehrpersonen sollen sich überprüfen
Ein wichtiges Stichwort heisst darum: fair unterrichten. Ob dies der Fall ist – lässt sich mit der an der Fachhochschule Nordwestschweiz entwickelten Weiterbildung «SCALA» herausfinden.
In einem mehrtägigen Kurs und einem Coaching sollen Lehrkräfte überprüfen können, ob sie «chancengerecht» unterrichten. Markus P. Neuenschwander hofft, dass das Programm in Zukunft in die Ausbildung integriert wird, damit Kinder in der Schule nicht aufgrund ihrer Herkunft, sondern aufgrund ihrer Fähigkeiten und Leistungen beurteilt werden.