Der Name Atlantropa stand für «Festland am Atlantik». Architekt Herman Sörgel wollte einen neuen Superkontinent schaffen: «Europa und Afrika sollen mit ihren Landgebieten zusammenwachsen und damit Atlantropa zu einem Erdteil der Zukunft machen.»
Sörgel entwickelte seine Utopie vor dem Hintergrund der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Und er war mit seinen Weltrettungsplänen nicht allein. In Münchens Schwabinger Boheme, seinem Biotop, wurden Sozial- und Lebensreformen im Wochentakt entworfen.
Selbst Albert Einstein interessierte sich für die Pläne Herman Sörgels. Und der Schweizer Bauingenieur Bruno Siegwart gehörte zu den wichtigsten Mitstreitern des Münchner Architekten. Er begleitete in den 1920er-Jahren auch die ersten Sondierungen an der Meerenge von Gibraltar.
Dort plante Sörgel den Hauptdamm seines Projekts Atlantropa: 35 Kilometer lang, 2,5 Kilometer breit und über 300 Meter hoch. Ziel: neues Siedlungsland, Energie im Überfluss, Friede unter den Völkern.
Eine Million Arbeiter und 1000 Turbinen
Die grösste technische Utopie des 20. Jahrhunderts wäre prinzipiell realisierbar gewesen. Aber es gibt viele Fragezeichen. Wie eine Million Arbeiter im Vierschichtbetrieb von ihren Camps zur Baustelle bringen? Wie an gigantische Mengen Baumaterial kommen? Wie die Baustoffe transportieren? Ohne eine Flotte wäre es nicht möglich gewesen. Und der Bedarf an Material hätte die weltweiten Märkte ins Schlingern gebracht.
Dann das Krafthaus: Der Itaipu-Damm zwischen Paraguay und Brasilien, eines der grössten Kraftwerke der Welt, betreibt seine 18 Turbinen in einem Gebäude von 1,5 Kilometern Länge. Für den Gibraltar-Damm veranschlagte Herman Sörgel 1000 Turbinen.
Venedig auf dem Trockenen
Die brennenden Probleme der 1920er- und 1930er-Jahre sollten mit Atlantropa gelöst werden: die Landknappheit, die politischen und sozialen Spannungen bis hin zur neuerlichen Kriegsgefahr, die Arbeitslosigkeit und die Armut. Obendrauf sollte der Gibraltar-Staudamm jährlich 50'000 Megawatt Strom produzieren.
Bei diesem einen Damm wäre es nicht geblieben. Und weil durch die Absenkung des Mittelmeers sämtliche Hafenstädte von Akko bis Venedig weit ins Hinterland geraten wären, entwarfen namhafte Architekten wie Mies van der Rohe futuristische Neustädte.
Durch Technik vereint
Atlantropa war eine grössenwahnsinnige Idee, aber nicht gewinnorientiert, sondern pazifistisch. Herman Sörgel glaubte, dass man die Menschheit mit Technik einen könne und träumte vom europäischen Frieden. Den Nationalsozialisten mit ihren eigenen geopolitischen Plänen war seine Utopie ein Dorn im Auge.
1936 liessen die Nazis einen Propagandafilm drehen: «Ein Meer versinkt.» Ausgerechnet sie gaben in der aufwändigen Bavaria-Produktion die Weltretter und fuhren dabei auch schweres ökologisches Geschütz gegen Atlantropa auf: «Aber was sagt die Erde dazu?!»
Kühne Zielsetzung
Heute sind solche Bedenken mehr als Propaganda: In ökologischer, kultureller und politischer Hinsicht hatte das Projekt seine blinden Flecken. Es liess anfänglich zum Beispiel ausser Acht, dass für ein Zusammenwachsen Europas und Afrikas Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner hätten umgesiedelt werden müssen.
1952 wurde Herman Sörgel mit dem Fahrrad von einem Auto angefahren. Er starb, ohne je einen verbindlichen Zuschlag für Atlantropa erhalten zu haben. Seine Utopie kam einige hundert Jahre zu früh. Sie hatte ihre Mängel, aber in ihrer dezidiert philanthropischen Zielsetzung bleibt sie kühn.