Pius XII. war während des Zweiten Weltkriegs Papst – und verurteilte den Holocaust nie explizit. Jetzt ist ein Brief aufgetaucht, der beweisen soll, dass das Kirchenoberhaupt von den Konzentrationslagern schon Mitte 1942 gewusst habe, Monate bevor er in seiner Weihnachtsbotschaft 1942 implizit davon sprach. Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte, erklärt, warum der Zeitpunkt so wichtig ist.
SRF: Im Archiv wurde der Brief eines Jesuiten aus dem Jahr 1942 gefunden. Belegt der nun zweifelsfrei, dass Papst Pius XII. schon während des Zweiten Weltkriegs vom Holocaust wusste?
Markus Ries: Es geht hier hauptsächlich um den Zeitpunkt. Dass er es am Ende des Krieges gewusst hat, ist unstrittig. Von 1942 ist in den Geschichtsbüchern auch schon länger die Rede. Aber sehr wichtig ist die Unterscheidung: War es Ende 1942, Mitte oder sogar schon vorher? Jetzt kann man mit einer bestimmten Gewissheit feststellen: Mitte 1942 wusste er von diesen Vernichtungslagern.
Warum ist es wichtig zu wissen, wann genau Pius XII. über die Massenvernichtung von Juden im Dritten Reich gewusst hat?
Die Frage «Wann hat man es gewusst?» ist für alle Betroffenen und Beteiligten sehr wichtig. In den Regionen, in denen die Vernichtungslager standen, gibt es die Diskussion: «Wann wussten es die Nachbarn?» Und es gibt die Diskussion «Wann wussten es die Alliierten» genauso wie «Wann wusste es in Bern der Bundesrat?»
Die entscheidende Frage ist: Hätte Pius etwas für die bedrohten Menschen tun können?
Die Frage, die Pius betrifft, ist, welche Handlungsmöglichkeiten ihm zur Verfügung gestanden hätten, um etwas zu tun. Hätte er etwas für die bedrohten Menschen tun können?
Grundsätzlich beschäftigt uns in der Kirchengeschichte vor allem die Frage: Wie konnte es zum Antisemitismus kommen, wo doch die meisten, die das betrieben haben, zumindest ursprünglich Christgläubige waren? Oder war er gerade deswegen möglich, weil sie Christgläubige oder katholisch waren? Diese Fragen stellen sich auf allen Ebenen, natürlich auch beim Papst.
Da wird also noch viel aufzuarbeiten sein. Welche Konsequenzen erwarten Sie?
Es geht nicht nur darum, ob der Papst feige geschwiegen hat, sondern auch darum, ob er dem Ganzen sogar noch Vorschub geleistet oder es ermöglicht hat? Oder hat er versucht, klug zu taktieren – und dann die Situation falsch eingeschätzt? Hierzu gibt es unterschiedliche Beurteilungen. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, wann man über die Vernichtungslager Bescheid wusste.
Aber da ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen.
Nein, Titel wie «Hitler's Pope», der «Erfüllungsgehilfe», zum Beispiel zeugen davon. Und auf der anderen Seite «Hitlers Opfer». Da gibt es die ganze Bandbreite.
Letzte Woche die Missbrauchsfälle, jetzt dieser Brief: Ist die katholische Kirche durch all diese negativen Stimmen aktuell in einem freien Fall?
Ich sehe sie nicht im freien Fall, aber ich sehe sie am Abgrund stehen. Es ist schrecklich zu sehen, was bis in die 1980er-Jahre hinein geschehen ist, welche Verbrechen hier möglich gewesen sind aufgrund kollektiven Versagens. Hier muss man Korrekturen machen.
1945 war man auch erschrocken, was Christgläubige ihren jüdischen Mitmenschen antun konnten. Das hat tatsächlich dazu geführt, dass heute ganz andere Verhältnisse herrschen. Gerade das ist doch auch ein Grund für Hoffnung und Zuversicht.
Das Gespräch führte Bodo Frick.