Venedig ist ein Mythos. Eine Stadt auf Stelzen, umspült von Wasser und überrannt von Touristinnen und Touristen. Wie viele Millionen pro Jahr es sind, weiss niemand genau. Klar ist nur, dass Venedig unter «overtourism» leidet – beziehungsweise litt.
Seit das Virus Ende Februar 2020 die Lagunenstadt erreichte, sind die Bewohnerinnen und Bewohner plötzlich unter sich. «Es war herrlich», erzählt Elena Almansi, die Gästen das Rudern beibringt und letzten Frühling fast alleine durch die leeren Kanäle des Zentrums der ehemaligen maritimen Grossmacht fahren konnte.
Almansi ist eine der wenigen Einheimischen, die noch in Venedig leben. Obwohl sie auf ausländische Kundschaft angewiesen ist, sagt sie: «Der beste Tourismus, den wir je hatten, war letzten Sommer. Es kamen wenige. Aber die wollten unbedingt hierherkommen. Skandinavier, die mit dem Auto anreisten, weil sie Angst hatten, der Flug werde gestrichen und sich entsprechend vorbereitet hatten. Die hätten auch den Eintrittstest bestanden.»
Der Eintrittstest ist Almansis Vorschlag, wie die Menschenmassen, die Venedig tagtäglich überrollen, kontrolliert werden könnten: «Die Leute müssten Fragen beantworten wie ‹Gibt es Autos in Venedig?›, ‹Wo steht der Campanile?› oder ‹Wie heisst die Hauptinsel?›.»
So könnte man jene herausfiltern, die ihrer Reisedestination gegenüber ein genuines Interesse bekundeten. Die dürften dann rein, so Almansi.
Gekränkt von der Ignoranz
Selbstverständlich sei das nicht realistisch. Aber die Ignoranz der Reisenden kränkt die stolze Almansi: «Die wissen ja nicht mal, ob sie in Pisa oder Venedig waren, wenn sie zu Hause die Bilder auf ihrem Smartphone durchscrollen.»
Oder in Verona. Dort drängen sich drei Millionen Touristinnen und Touristen pro Jahr in einen Innenhof, um ein Selfie von sich und einem Balkon zu machen, vor dem einst Romeo seine Julia angeschmachtet haben soll.
Der Palast aus dem 13. Jahrhundert gehörte einst einer einflussreichen Familie. Der Balkon wurde erst vor rund 100 Jahren hinzugefügt, und die Geschichte ist – wie alle Welt weiss – frei erfunden.
Um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten, wollte die Stadt Verona eine Zugangsbeschränkung einführen. Die Installation eines Drehkreuzes vor Julias falschem Balkon scheiterte allerdings am Widerstand jener, die vom Tourismus profitieren. Also den Betreiberinnen und Betreibern von Gaststätten, Souvenirläden und Hotels.
Biennale und Kreuzfahrt
Auch in Venedig wehren sich jene, die vom Tourismus leben, gegen Ideen, diesen beschränken zu wollen. Zum Beispiel indem den Kreuzfahrtschiffen das Anlegen verboten wird. Die «Associazione Piazza San Marco» vertritt über 3'000 Menschen, die direkt oder indirekt am gleichnamigen weltberühmten Platz arbeiten.
Nach dem Hochwasser vom Winter 2019 und dem Ausbruch des Virus 2020 warten sie alle nur darauf, dass endlich wieder die Flut kommt: die Menschenflut.
Warten auf die Flut
Doch erstmal kommen die Architekturinteressierten, denn die Biennale di Venezia soll nun definitiv am 22. Mai eröffnet werden. «Das sind die guten Touristen», sagt Elena Almansi. Sie seien interessiert an Kunst und Kultur und würden in Venedig essen und schlafen.
Danach gehe es vermutlich weiter wie zuvor. Das heisst: Venedig wird wieder tagtäglich überschwemmt. Meistens vom Tourismus – und ab und zu vom Wasser.